Alle kennen Edith. Die kolumbianische Frau mit den langen schwarzen Haaren auf dem schwarzen Motorrad. Die Frau mit indigenen Wurzeln und internationalen Freunden. Die Frau, die früh aufsteht und spät nach Hause kommt. Die Frau, die so unvorhersehbar wie vertrauenswürdig ist.

Ich bin fasziniert. Seit einiger Zeit zieht es Edith in die Berge, denn dort hat sie ein Stück Land gekauft: «El lote» (das Flurstück), wie sie es zu nennen pflegt.

Die Berge laden ein

Auf diesem Fleckchen Erde baut sie verschiedene tropische Nutzpflanzen an, auf insgesamt eineinhalb Hektaren, aufgeteilt in drei Parzellen. Bauen tut sie dort auch. Was mit einem bescheidenen Dach begonnen hat, beginnt sich langsam zu einem kleinen Holzhüttchen, einer «chocita», zu mausern. Höchste Zeit, ihren Ort der Sehnsucht in den Bergen zu besuchen.

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So trifft es sich gut, dass Edith unsere kleine Gruppe «multicultural» zu einem «asado» (Grillade) eingeladen hat und ich mich unter den glücklichen Auserwählten befinde. Wir sind in Cali und müssen uns zuerst zirka 45 Minuten in die Höhe der «Farallones de Cali» winden. Die «Farallones de Cali» sind ein grosser Naturpark in den Westanden Kolumbiens mit hoher Biodiversität und verschiedenen Flüssen, die Teile von Cali mit Wasser und Elektrizität versorgen und dazu ganz viel Badespass bescheren.

Eine Karawane zu «el lote»

Das Stück Land von Edith hat weder eine Adresse noch gibt es öffentliche Verkehrsmittel, die uns dorthin verfrachten könnten. Wir organisieren uns mit privaten Autos und stecken die Route ab.

Zu Beginn schlängeln wir uns noch auf asphaltierten Strassen rauf, später rattern wir mit 9 km/h über Stock und Stein und stehen plötzlich im Stau. Es ist nicht irgendein Stau, anstatt heulenden Motoren sehen wir trauernde Menschen. Vorgestern ist ein Junge der ansässigen Gemeinschaft gestorben.

Traditionellerweise fahren alle Angehörigen hintereinander in Autos zur Beisetzung und Verabschiedung des geliebten Verstorbenen. Die Menschen um unser Auto ertränken ihre Trauer in der Musik und im Alkohol, doch sie lassen uns mit einem freundschaftlichen Klaps auf das Dach passieren. Als der Weg dann wirklich endet, werden wir von einem Rudel bellender Hunde begrüsst. Beinahe klettern sie mit ihren Pfoten in die geöffneten Autofenster, doch wir haben Glück und sie belassen es beim knurrenden Gejaule und Blitzen der Zähne.

Vollbepackt mit Fleisch, Gemüse, Früchten, Wasser, Bier und Kochutensilien kraxeln wir mit den wild umherspringenden Hunden das holprige Weglein hinunter, bis wir «el lote» sehen.

Endlich oben angekommen

In der Sonne funkelt uns das kleine Hüttchen entgegen. Sanftes Grün und Braun und vor allem die friedliche Ruhe verschliessen unsere Münder und wir schweigen inmitten dieses versteckten Paradieses.

Das Hüttchen verfügt über einen Wasseranschluss, aber eine Küche und ein WC gibt es nicht. Wie von selbst beginnt jede und jeder mit einer kleinen Arbeit. Jemand macht mit der einzigen Kerze Feuer, eine zweite Person wäscht die erdigen Kartoffeln, ich fädle die Bohnen ab. Alles ohne Worte, alles ohne Edith. Edith ist noch nicht angekommen.

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Wo sie steckt, weiss niemand. Niemand vermag Edith in ein Zeitraster zu drücken, Edith kommt und geht wie von Zauberhand. Zur Unterstützung in der Vorbereitung unseres Festmahls werden weitere Leute der Gruppe «multicultural» mit noch mehr Leckerbissen hinunter gelotst.

Basilikum für die Stadt Cali

Ein wenig später kocht das Wasser über dem Feuer. Stolz schauen wir den Kartoffeln beim Garen zu. Das Kochen hier oben ist ebenso zeitaufwendig wie zeitlos und so langsam verstehe ich, weshalb Edith so gerne in ihrem «lote» ist. Der Wind schweift durch die Vegetation und lässt die Farben schillern, die Pflanzen gedeihen gemütlich.

Spezialisiert hat sich Edith vor allem auf Kräuter wie Basilikum, Rosmarin, Thymian, Minze und Zitronengras, die «hierbas aromáticas». Nach der Ernte transportiert Edith die Kräuter auf dem Motorrad hinunter in die Stadt und verkauft sie an verschiedene kleine Läden und Restaurants im «Barrio (Quartier) Los Libertadores».

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Zu den Abnehmerinnen gehört eine Pizzeria, deren Pizzas wir auch schon gekostet haben. Ediths Basilikum gibt der Pizza tatsächlich einen schönen «Twist». In der Schweiz mag Basilikum weit verbreitet sein, in Kolumbien hingegen gehört das Kraut nicht unbedingt zum Speiseplan. Auch verzichtet Edith bis auf ein paar wenige Ausnahmen auf Pflanzenschutzmittel, was in Kolumbien nach meinen ersten Recherchen eher eine Seltenheit ist.

Eine wachsende Zukunft

Die Nähe zur Stadt, der Verkauf ohne Zwischenhandel und die Frische ihrer Kräuter sorgen für ein gutes Kräutergeschäft. Doch Ediths Vision ist nicht nur krautiger Art. Am liebsten würde sie hier oben leben und ein Zuhause für den Lebensabend aufbauen. Ihre Finca soll in Selbstversorgung betrieben werden und auch ein rustikales Glamping (Camping mit etwas gehobenem Standard) kann sie sich vorstellen. Doch dafür braucht es Geld, viel Geld.

Zunächst geht es erst einmal um den heranwachsenden Maniok, um die Papayabäume, die Bohnen, den Mais, die verschiedenen Kochbananensorten, um die «papa amarilla» (gelbe Kartoffel) und die Kirschtomaten. Bald wird sie auch verschiedene Früchte wie Orangen, Maracuyas, Granadillas und Guamas sowie Avocados ernten können. Die geschmackliche Vorstellung dieser bunten Tropen-Melange kurbelt den Appetit an. Das Fleisch vom Grill duftet schon vorzüglich und die gerösteten Peperoni wurden der Olivenölmassage unterzogen. Kaum haben wir unsere Köstlichkeiten auf dem Tisch ohne Stühle angerichtet, braust jemand mit dem Motorrad heran und winkt uns zu. Es kann nur Edith sein. Edith kennt alle.

[IMG 5]Zur Person:

Lotta Köppel hat an der ETH Zürich Agrarwissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflanzenwissenschaften studiert. Ihre Masterarbeit im Bereich der Bohnenzüchtung hat sie an der Alliance Bioversity & CIAT in Cali, Kolumbien, absolviert.

Nach drei Jahren im Dienste des Fachbereichs Landwirtschaft von Grün Stadt Zürich sucht sie nun nach neuen Abenteuern und beruflichen Herausforderungen in Kolumbien.