Als Kind und Jugendliche hatte ich das grosse Glück, viele Sommer auf der Alp verbringen zu dürfen. Im Frühling konnte ich es kaum erwarten, bis der Schnee geschmolzen war und wir die letzten Lawinenkegel mit dem Bagger durchbrachen, um die Alp einzurichten. Für mich gab es damals keine Verantwortung, nur Freude und die unbändige Lust, alles zu entdecken und zu lernen. Wir hatten Milchkühe, alle Gattungen Jungvieh, Schafe, Ziegen, Schweine, Pferde, Hühner, Hunde. Paradiesische Zustände für ein Kind.

 

Bündner Alperlebnisse

Im Blog des Bündner ÄlplerInnen Vereins berichten Älplerinnen und Älpler in loser Folge von ihren Erlebnissen während des Alpsommers.

 

Verantwortung übernommen

Ich musste nicht hart arbeiten wie viele andere Kinder früher auf den Alpen. Dann, als Jugendliche, übernahm ich mehr Verantwortung. Es war aber eine einfache Verantwortung, die man aus eigener Erfahrung und Erzählungen der älteren Älpler mit bestem Wissen und Gewissen wahrnehmen konnte. Auch unberechenbaren Faktoren konnte man dank Instinkt, Kreativität und einer gewissen Robustheit begegnen. Nach vielen Sommern auf der gleichen Alp ist man mit Dingen vertraut, die sich kaum erklären und schon gar nicht wissenschaftlich erheben lassen. Da ist eine tiefe Verbindung mit dem Genius Loci, «dr Seel vam Ort». Man ist mit seiner Umgebung verbunden und vertraut darauf, dass Fleiss und Umsicht belohnt werden.

Von der jugendlichen Älplerin durfte ich als junge Frau zu den Alpverantwortlichen wechseln. Diese Verantwortung nehme ich zusammen mit meinem Mann Bernhard auf der Alp Grossguraletsch oberhalb von Vals wahr. Heute werden die Anforderungen an die Alpverantwortlichen von vielen sogenannten Drittfaktoren durchkreuzt. Die dominierenden Themen sind nicht mehr nur das Wetter, die Weideführung, die Tiere, der Käse. Heute bestimmen ganz andere Themen die Alpvorbereitung. Zwischen Verordnungen, Weisungen,Wanderwegen, Biketrails, Grossraubtieren, Hündelern, Wildcampern, Tik-Tok-Kuh-Erschreckern, Drohnenfliegern und anderem Erstaunlichem, tanzt man als Alpverantwortliche auf dünnen Seilen zwischen dem Anspruch einer nachhaltigen Bewirtschaftung, Wohlergehen der Herden, guten Arbeitsbedingungen für das Alppersonal und dem Anspruch an die «Alp», als Abenteuerspielplatz und Erholungsraum verfügbar zu sein.

Erinnerungen an die Zukunft

Ende des 15. Jahrhunderts verkaufte unsere Gemeinde Alpen, um Geld für den Bau der Valser Dorfkirche zu erhalten. Man veräusserte einen Teil seiner Lebensgrundlage für den Glauben an etwas Höheres. Auch heute scheint mir, wäre man bereit, die Alpen für etwas «Höheres» zu verkaufen. Freizeit, Sport und Erholung sind in einer Wohlstandsgesellschaft höhere Werte. Für Lebensmittel gibt der durchschnittliche Schweizer Haushalt wenig aus. Geht man weiter zu den ideologischen Zielen des Naturschutzes, welcher in extremis die Alpen am liebsten wieder verwildern lassen würde, wird es schon fast religiös. Der grosse Traum der wiederhergestellten wilden Landschaften, wie es Rewilding Europe propagiert, tönt wie ein modernes Märchen – ist aber eine feindliche Übernahme unseres Lebensraumes. Mit viel Geld, Propaganda, Marketingstrategen und Wissenschaftlern vorangetrieben. Die Natur soll sich selbst überlassen werden, grosse Herden wilder Pflanzenfresser sollen Europas menschenleere Naturlandschaften durchstreifen. Reguliert durch grosse Beutegreifer.

Generationen vor uns haben es mit viel Schweiss und Umsicht geschafft, das Alpengebirge für Mensch und Tier nutzbar zu machen. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Möglichkeit, die Natur schonend als Nahrungsgrundlage eigenverantwortlich zu nutzen, entzogen wird.

Trügerische Sicherheit

Käse, Milch, Butter und Fleisch brachten schon Generationen vor uns durch harte Zeiten. Krieg, Pandemien, Naturkatastrophen (seit letztem Jahr sind die Preise für Grundnahrungsmittel weltweit drastisch gestiegen): Es gibt viele Szenarien, die es von heute auf morgen verunmöglichen können, dass alles per Mausklick vor die Haustüre geliefert wird. Unsere Verantwortung muss sein, dass Hirten und Hirtinnen, Sennerinnen und Sennen sowie Herden nicht nur zu Geduldeten in ihrer Heimat und an ihrem Arbeitsplatz werden. Sie sollen weiterhin gesunde einheimische Lebensmittel ressourcenschonend produzieren, Tiere umsorgen und Landschaften pflegen können. Ich wünsche allen einen gesegneten Alpsommer, in welchem das Schöne überwiegt.