Am 13. Juni stimmt die Schweiz über die beiden Agrar-Initiativen ab. Die Diskussion ist stark polarisiert. Wie nehmen Sie den Abstimmungskampf wahr?
Christof Dietler: Es geht um Ja oder Nein und nicht um Zwischentöne. In echten Demokratien fliegen in Abstimmungskämpfen die Fetzen, es wird vereinfacht, zugespitzt. Die Debatte lebt, dem Stimmbürger schwirrt der Kopf. Ich habe kein Problem damit. Das Problem liegt woanders.

Wo denn?
Am Tag danach. Mir graut mehr vor der Zeit nach dem 13. Juni als vor dem Kampfeslärm bis dahin. Ich begleite die Schnittstelle Markt und Politik im Agrarsektor nun schon über 30 Jahre. Als Direktvermarkter, Labelproduzentin oder innovativer Winzer war es noch nie einfacher, vorwärtszukommen! Kochsendungen, Vertrags-Landwirtschaft, Disput-verwegene Umwelt- und Tierwohl-NGOs im Umfeld, Hype um Regioprodukte oder selbst die paar Vegi-Fans: ich sehe darin fast nur Chancen. Ernährung und Natur sind grosse emotionale Themen und die Schweizer Bäuerinnen und Bauern sind genau darin stark. Und mit Corona sind die Kochbücher vergriffen, der Schweizer Butter verkauft, IP-Käfer und Bio-Knospe fliegen, blühen, wachsen. Die Frage ist nur, ob das auch so gesehen wird, am 13. Juni. Ich befürchte Abwehr, Stillstand und der Ruf nach zusätzlichen staatlichen Eingriffen in den Markt wie beim Zucker oder der Milch.

«Wir müssen die Erwartungen der Konsumentinnen und Konsumenten nicht abwehren, sondern nutzen»

Apropos Termin: Wie geht es nach den Abstimmungen weiter?
Erstens ist es dann an der Zeit, nicht von den übertriebenen Erwartungen des Umfelds, der Konsumentinnen und Konsumenten zu sprechen. Im Gegenteil sind diese Erwartungen zu nutzen. Sie abzuwehren haben wir - also die Akteure im Agrarsektor – die Kraft nicht. Zweitens jetzt bitte die agilen Labelorganisationen, Direktvermarkter, Branchenorganisationen, Züchter usw. arbeiten lassen. Geben wir ihnen den Spielraum, die notwendige Eigenverantwortung. Wir brauchen mehr Innovation am Markt, um die Umweltprobleme zu lösen. Denn wir haben Umwelt- und Wertschöpfungsprobleme, keine Imageprobleme. Über alle Betriebe gesehen wird etwa. 80 Prozent des Gesamterlös von Landwirtschaftsbetrieben am Markt erzielt. Das ist der Hebel! Drittens ist die Geschichte am 13. Juni nicht abgeschlossen. Sie beginnt erst. Ich empfehle allen Akteuren das vom Parlament mit überwältigender Mehrheit angenommene Bundesgesetz über die Verminderung der Risiken durch den Einsatz von Pestiziden jetzt rasch und gut zu lesen.

Was steckt darin?
Das Gesetz fordert und ist modern. Modern, weil es der «Branche» auch offenlässt, wie sie die Ziele erreichen will. Fordernd, denn der Einsatz von Bioziden und Pflanzenschutzmittel muss so reduziert werden, dass wirklich die Belastung sinkt. Es geht um die Belastung der Oberflächengewässer, naturnahe Lebensräume etc. Da wurde im Schatten der skurrilen Sistierung der AP 22+ echt gute Gesetzesarbeit geleistet. Gerade die IG Agrarstandort Schweiz sieht darin die Chance von mehr Eigenverantwortung. Ein sachter Schritt zu einem Paradigmenwechsel steht bevor: weniger Detailvorschriften, mehr Freiraum in der Erreichung der Ziele. Und bei der heiklen Frage der Nährstoffe kann die Branche vorwärts gehen. Wir von der IGAS sind da dabei, zusammen mit dem SBV. Einfach ist es nicht. Aber der Weg lohnt sich zu gehen.

 

«Im Schatten der skurrilen Sistierung der AP22+ wurde echt gute Gesetzesarbeit geleistet»
Wer jetzt im Abstimmungskampf behauptet, bei einer Annahme der TWI gehe es dem Trinkwasser wegen Bauern, die auf Direktzahlungen verzichten, nicht besser, liegt kreuzfalsch. Genauso verwegen ist, wenn die TWI-Promotoren behaupten, bei einer Ablehnung der Initiativen geschehe nichts. Die Parlamentarische Initiative tritt so oder so in Kraft. Wenn wir nicht alle zu bewussten Gesetzesbrechern werden, dann gilt: der Zustand der Gewässer wird sich jetzt so oder so verbessern.

 

Der Bundesrat hat aufgrund der Parlamentarischen Initiative den Massnahmenplan Sauberes Wasser vorgestellt. Besteht die Gefahr, dass er verwässert wird, wenn die Abstimmung vorüber ist?
Es wird nicht gelingen! Das Gesetz ist gut, straff formuliert, unmissverständlich. Und ich bin unverbesserlicher Optimist: Organisationen wie der Obstverband, Mutterkuh, Suisseporcs oder die Gemüsler werden voraus gehen. Die Probleme selbst angehen ist angesagt. IP macht das auch, Bio sowieso

Die Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit aus der Bevölkerung dürften nach dem Abstimmungstag nicht versiegen. Wie soll die Schweizer Landwirtschaft damit umgehen?
Es geht nicht um Forderungen «aus der Bevölkerung». Nachhaltigkeit ist logisch, nützt, ist eine Chance, bezieht die Ökonomie auch mit ein. Wir sind im Agrarsektor nicht Opfer von verstiegenen Forderungen, sondern selbstbestimmte Nutzer von Trends. Wir müssen wegkommen von der Opferhaltung.

Wie stehen Sie zu den beiden Initiativen und aus welchen Gründen?
Die IGAS, deren Geschäftsführung ich im Mandat verantworte, hat keine Parole verabschiedet. Weil wir auf den Dialog in der heterogenen Mitgliedschaft setzen. Und weil zwar die Mehrheit der Organisationen Nein sagt, aber auch Organisationen die Vorlagen anders beurteilen. Das ist gut so. Wir möchten zudem die Pa.Iv. im Sinne der Chancen nutzen.

 

«Ich lege 2x Nein ein»
Ich persönlich möchte hier transparent sein: Ich werde 2x Nein einlegen. Gegen Bundesrat, Bauernverband, Parlament habe ich 1995 an vorderster Front das 3x Nein bei den Agrarvorlagen miterkämpft. Weil die Zäsur v.a. bei der Verfassung  notwendig und alternativlos war. Heute haben wir auch Handlungsbedarf. Aber Alternativen mit Markt- und Eigenverantwortungspotenzial. Ich meine zwischen dem Eingangsbügel zum Supermarkt und Liegeboxenbügel im Laufstall hat’s viel Platz für verbesserte Zusammenarbeit und zum partnerschaftlichen Vorwärtskommen.