Pierre Matile sitzt an seinem Schreibtisch. Er wühlt in Unterlagen, sucht etwas. «Schau, das ist sie», sagt er mit einem Strahlen im Gesicht und reicht eine alte Fotografie über den Tisch. Der Gründer der bekannten Pferdeplattform horses.ch ist ein Pferdemensch. Kein Wunder hat er auch in eine Pferdefamilie geheiratet. Den gebürtigen Westschweizer hat die Liebe schliesslich in die Deutschschweiz geführt.
Ice Cream war die Erste
Auf der Fotografie ist Pierre Matiles Frau Ursula in jungen Jahren abgebildet. Sie sitzt auf der Elite-Stute Ice Cream. Diese Stute mit Jahrgang 1970 war etwas Besonderes. So war sie eines der ersten Pferde in der Schweiz, das aus künstlicher Besamung (KB)mit gefrorenem Sperma entstand. Der künstlichen Besamung standen vor 50 Jahren noch mehrere Hindernisse im Weg, wie Pierre Matile sich erinnert. So sei es schwierig gewesen, den richtigen Zeitpunkt für die Besamung während der rund einwöchigen Rosse zu finden. Ferner habe nicht jeder Samen das Einfrieren gleich gut überstanden. «In Frankreich hatte man seinerzeit Erhebungen gemacht», erinnert sich Matile. «Etwa 50 % der Besamungen mit Frischsamen kamen damals gut. Mit Gefriersamen waren nur rund ein Viertel aller Besamungen erfolgreich», weiss er.
Nachfrage blieb klein
Weiter war es eine kostspielige Sache. Die Nachfrage war nicht derart gross, dass es sich gelohnt hätte, Samen zu gewinnen, denn der Natursprung habe sich hartnäckig gehalten. «Das war in der Schweiz sehr lange noch der Fall», erinnert sich Pierre Matile. So seien auch in den Achtzigerjahren die Stuten mehrheitlich noch lediglich aus medizinischen Gründen künstlich besamt worden. «Kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, dass insbesondere bei Warmblutpferden der Natursprung heute vielmehr die Ausnahme ist», resümiert Matile.
Das bestätigt Murielle Lauper. Im fünften Jahr leitet die Tierärztin am Nationalen Pferdezentrum in Bern das Reproduktionszentrum. Derzeit herrscht hier Hochbetrieb. Beim Besuch der BauernZeitung stehen zwei Freibergerstuten in den Besamungsständen. Auch bei dieser Rasse nimmt die Nachfrage nach der künstlichen Besamung zu. «Das hat verschiedene Gründe», erklärt Lauper. «Zum einen birgt der Deckakt bei Pferden eine nicht zu unterschätzende Unfallgefahr.» Lauper erzählt ein Beispiel von einem Hengst, der vergangenes Jahr nach einem Sturz von einer Stute den Widerrist brach. Für ein Reitpferd eine heikle Sache.
Verstorbene Hengste
Es gibt aber noch weitere Gründe, wie beispielsweise ein weiter Anfahrtsweg zum Standort des Hengsts, oder aber die Nachfrage nach einem Beschäler, der nicht mehr lebt und dadurch nur durch Gefriersamen zur Verfügung steht. Gefriersamen macht Genetik lagerbar, wie das aus der Viehzucht auch bekannt ist.
Der Hauptgrund für den Aufschwung von KB bei den Warmblutpferden war und ist deren teils hoher Wert und ihr Einsatz im Sport. Durch KB kann hier viel Flexibilität gewonnen werden. Denn an Sport-Prüfungen ist der Hengst oft nicht abkömmlich und die Stute aber dann rossig, wenn sie es eben ist.
Auch wenn die Nachfrage zunimmt, der Anteil der auf Deckstationen belegten Stuten ist bei den Freibergern immer noch eine Mehrheit. Ein Punkt, den die «wirtschaftlich denkenden Freibergerzüchter» von KB abhält, sind sicherlich die Kosten. Diese betragen ohne Samen gegen 500 Franken pro Zyklus. Mit Frischsamen und wenn alles ganz einfach verlaufe und nur ein ganz kurzer Aufenthalt der Stute nötig sei, könne es durchaus auch günstiger werden. Je aufwendiger und betreuungsbedürftiger die Sache wird, umso höher fallen die Kosten aus. «Auf den ersten Blick ist KB klar kostspieliger. Rechnet man aber den Weg und die Zeit mit ein, die ein Weg zum Deckhengst mit sich bringt, sieht es etwas anders aus», erinnert die Tierärztin. Denn nicht selten ist die Stute schon eine Woche, bevor das Ei springt, rossig. Im Natursprung wird jeden zweiten Tag gedeckt. Ist das Wetter, wie Anfang April, von kühlen Temperaturen geprägt, fahren die Stutenbesitzer gerne auch fünf- bis sechsmal zum Hengst, bis die Stute nicht mehr steht und den Hengst abweist. Das zeigt, dass sich das Ei, nach Möglichkeit befruchtet, auf seine Reise in die Gebärmutter gemacht hat.
Der Reithelm wird zum Deckhelm
Das Absamen von Hengsten geschieht auf einem Phantom. Es gibt Hengste, die dieses ohne Beisein einer Stute problemlos besteigen. Andere brauchen eine Animationsdame, die nach Möglichkeit vor dem Phantom platziert wird.[IMG 2]
Unfallgefahr gross
Der Deckakt der Pferde ist kaum vergleichbar mit jenem beim Rindvieh. Das teils heftige Verhalten von Hengst und Stute kann sie selbst, aber auch die an der Belegung beteiligten Menschen gefährden. Viele Hengsthalter verwenden daher im Natursprung ein Deckgeschirr, das die Hinterbeine der Stute fixiert, damit diese nicht schlagen kann. Die Ausbildung und Erziehung des Hengsts zum Decken ist eine wichtige Voraussetzung für einen vernünftigen Deckakt ohne Unfälle.
Kopf schützen
Beim Absamen fällt zwar die Stute weg, aber die Reaktion des Hengsts in erigiertem Zustand kann immer noch sehr heftig ausfallen. Das ist auch der Grund, warum Murielle Lauper auf dem Bild einen Helm trägt. Er schützt sie vor möglichen Schlägen durch Steigen oder Auskeilen der Hengste beim Besteigen des Phantoms.
Am Samstag, 7. Mai, referiert Murielle Lauper an der BEA in Bern. Unter dem Titel «Wie im 21. Jahrhundert ein Fohlen entsteht» berichtet die Tier-ärztin zwischen 13.30 und14 Uhr am Expertenforum aus ihrem Alltag an der Reproduk-tionsstation am Nationalen Pferdezentrum.
Weitere Informationen: www.npz.ch
Rund 80 Stuten
Am Nationalen Pferdezentrum in Bern werden jeden Frühling zwischen 60 und 80 Stuten besamt. Gefragt nach dem Anteil an Freibergern auf der Reproduktionsstation, schätzt Murielle Lauper rund ein Viertel. «Ich führe keine Statistiken, auch wenn das sehr interessant wäre, aber dafür fehlt mir die Zeit», sagt sie. Denn die Stutenbesitzer wollen ein Resultat sehen und das ist ein gesundes Fohlen im kommenden Jahr, wenn die elf Monate Trächtigkeitsdauer vorüber sind.
Die beiden Freibergerstuten sind fertig. Während ihres Aufenthalts werden sie täglich bis zu viermal untersucht, damit der richtige Zeitpunkt für die Befruchtung erwischt wird. Die eine der beiden kann bereits nach Hause, bei der anderen soll am Abend die Besamung über die Bühne gehen. Draussen steht eine Warmblutstute. So geht es den ganzen Vormittag weiter. Vor der kleinen Halle, in der ein Phantom zum Absamen eines Hengsts steht, hängt eine Tafel mit den Kundinnen – den Stutennamen. Die Liste ist heute lang. Der Frühling ist definitiv angekommen.
Das Schweizer Nationalgestüt war Pionier
Das Schweizer Nationalgestüt war Pionier bei der Einführung der künstlichen Besamung in der Schweiz. Schon 1966 ist in Avenches VD das erste Fohlen aus einer Besamung mit Gefriersperma geboren. «Seither wurde die KB zu einer der wichtigsten Zuchtmethoden in der Schweiz, aber auch weltweit. 1994 wurde das EU-anerkannte Reproduktionszentrum gebaut, wo alle Infrastrukturen für die KB in optimaler Weise vorliegen», erklärt Rebekka Käser von der Universität Bern auf Anfrage. In den letzten zehn Jahren hat das Nationalgestüt zunehmend die KB-Aktivitäten an die Universität Bern übertragen. Das in diesem Rahmen 2012 geschaffene ISME gelte heutzutage europaweit als Kompetenzzentrum für die KB, dies nach wie vor in enger Zusammenarbeit mit dem Nationalgestüt.[IMG 3]
Aus Kostengründen
Gefragt nach der Rolle der künstlichen Besamung bei den Freibergern am Nationalgestüt, wird erklärt, dass beim Freibergerpferd der Natursprung traditionell immer noch üblich ist; dies vor allem aus Kostengründen. «Es gibt aber regelmässig Anfragen für Gefriersperma aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, aber auch z. B. den USA und sogar Südamerika. Auch in der Schweiz werden einige Stuten mit Gefriersperma belegt, so von Hengsten, die sehr weit weg stationiert sind oder verstorben sind», meint Rebekka Käser weiter. Die künstliche Besamung könne gerade für den Freiberger auch ein wichtiges Hilfsmittel zur Erhaltung der Biodiversität sein. «So liegt am Nationalgestüt derzeit Gefriersamen von 143 Hengsten vor, womit gesichert ist, dass wertvolle Zuchtlinien nicht verloren gehen können», erklärt Käser.
Neue Techniken
In der Warmblutzucht werden heutzutage fast alle Stuten mittels KB belegt. Zunehmend wird Gefriersperma eingesetzt, das aufgrund der oben im Artikel erwähnten Vorteile. «Vermehrt werden neue Techniken und Strategien entwickelt, die zur Steigerung der Fruchtbarkeit dienen, zum Beispiel die Besamung tief ins Gebärmutterhorn, das Aufteilen von Samendosen und damit die mehrmalige Besamung um den Ovulationszeitpunkt, oder der permanente Hengstkontakt von den zu besamenden Stuten», sagt Rebekka Käser. Für die Freibergerpferde interessant könnte in Zukunft zudem der Versand von Frischsamen und die Besamung analog zum Natursprung alle ein bis zwei Tage sein, ohne weitere tierärztliche Untersuchungen. Das analog zur Praxis in anderen Zuchtländern.