Mitten in der Nacht an einem polnischen Flughafen veränderte sich das Leben von Andriana Sobchuck von einem Moment auf den anderen. Es war vier Uhr morgens, sie war allein und wollte nach einem Urlaub zurück in die Ukraine reisen. «Dann hiess es, alle Flüge seien gestrichen, weil Russland die Ukraine angegriffen habe. Es sei Krieg.»

«Das war schlimm»

Die Ukrainerin hatte keine Anhaltspunkte, wie es ihrer Familie ging. «Das war schlimm, sehr beängstigend», sagt die 30-Jährige. Man sieht der jungen Frau an, dass ihr diese Erinnerung nahe geht. Sie kam erst mal bei Bekannten unter. Eine Woche später reiste sie heim in die Nähe von Lviv. «Ich konnte nicht wegbleiben. Ich musste wissen, wie es meiner Familie geht.»

Sie blieb dann noch drei Monate und arbeitete weiter. Die gelernte Köchin und Bardame nähte zuletzt in der Firma Danish Textiles nahe Lviv Matratzen. «Der Lohn in der Fabrik war höher, als wenn ich kochte.»

In die Schweiz

Dann wurde es wirtschaftlich immer schwieriger, viele Menschen verloren ihren Job und sie wusste, sie würde die Ukraine verlassen. «Ich hatte einige Pläne bezüglich Polen, entschied dann aber, weiter weg zu gehen.»

Weiter weg heisst in ihrem Fall in die Schweiz – als Erntehelferin auf einen kleinen Gemüsebetrieb im Berner Seeland. Sie kannte die Partnerin des Gemüsebauern über ein paar Ecken. «Ich hatte drei Tage Zeit, mich zu entscheiden. Ich sprach mit meiner Familie und beschloss, hierhin zu kommen.» Ihr Vater, ihre Schwester, ihr Neffe und viele Freunde blieben zurück. Sie vermisst sie alle schrecklich.

Flugzeuge machen Angst

«Die erste Woche war schwierig», sagt Andriana Sobchuk. Die Arbeit auf den Gemüsefeldern ist hart, die Tage lang. Und der Krieg hat Spuren hinterlassen. Wenn Flugzeuge über den Seeländer Himmel fliegen, zuckte sie anfangs zusammen. Das Geräusch jagte ihr Angst ein.

Erinnerungen kamen zurück – an die Warnungen vor Luftangriffen, die sie zu Hause per Telegram-Kanal bekam. «Wenn ein Alarm kam, rannten wir jeweils möglichst schnell in den nächsten Luftschutzkeller. Dort sitzt man dann im Dunklen und wartet einfach darauf, dass es aufhört.» Mittlerweile fühlt sie sich wohler. «Ich bin jetzt viel ruhiger hier. Zu Hause hatte ich eine ähnliche Aussicht auf Felder und ins Grüne.»

Ein Mädchen vom Land

Andriana Sobchuk sagt von sich, sie sei ein Mädchen vom Land. «Ich wuchs mit einem Gemüsegarten auf. Wir hatten Hühner und Enten. Also nicht viel anders als hier auf dem Hof.»

Auch an die Arbeit hat sie sich schon etwas gewöhnt. «Mit der Zeit fällt es dir leichter. Und ich bin es gewohnt, hart zu arbeiten.» Sie war allerdings überrascht, wie viel Handarbeit im Gemüsebau noch nötig ist. «Ich dachte, es gäbe mehr Maschinen», gesteht die Erntehelferin. In ihrer wenigen Freizeit lernt sie zweimal pro Woche Englisch. «Ich plane auch, hier wieder Sport zu machen. Zu Hause machte ich Yoga. Manchmal will ich einfach spazieren gehen, weil die Natur hier so schön ist.»

Hoffnungen zerstört

Andriana Sobchuk ist täglich im Kontakt mit der Familie. «Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Sie leben», sagt sie leise. In jeder freien Minute liest sie nach, was in der Ukraine passiert, sieht Videos von getöteten Menschen und leidenden Kindern. «Wir haben täglich andere, widersprüchliche Informationen. Vor dem Krieg hatte ich viele Pläne und Hoffnungen. Davon ist nun nicht mehr viel übrig. Man kann nichts planen.»

Näher am Meer leben

Sie werde eine Weile in der Schweiz bleiben und dann zurück in die Ukraine gehen, fügt Andriana Sobchuk an. Alle Träume konnten ihr die Russen mit ihrem Angriff auf ihr Heimatland nicht nehmen. «Ich möchte nach dem Krieg gerne in eine andere Stadt ziehen, vielleicht nach Odessa, um näher am Meer zu leben. Ich will Englisch lernen. Ich habe schon damit angefangen.» Es sei nun mit 30 ein guter Zeitpunkt, etwas Neues anzufangen.

«Ich mag die Stille»

Andriana Sobchuk träumt davon, einen eigenen Online-Shop für Mode aufzubauen, als Designerin zu arbeiten. Sie liebt schöne Kleider. Trotzdem fällt es ihr nicht schwer, für ihren neuen Job Arbeitshosen und Gummistiefel zu tragen. «Ich vermisse es nicht, in die Disco zu gehen. Ich mag das sowieso nicht, ich ziehe die Stille vor.»

Davon gibt es hier im Grünen – einige Kilometer weg vom Dorf – reichlich. Und etwas will Sobchuk noch anfügen: «Man darf keine Angst haben, etwas Neues zu wagen oder an einen neuen Ort zu gehen. Ich bin froh, dass ich hergekommen bin.»