Ein Rätsel zum Start: Was hat die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) mit einer Alphütte in den Schweizer Alpen zu tun? Vieles! Denn das Dossier «Alpsaison», wie der Schweizerische Verein für lebendige Traditionen das «z Bärg gehen» betitelt, wird aktuell von einem Gremium zur Aufnahme in das immaterielle Unesco-Weltkulturerbe geprüft. Dies sagt doch schon einiges über die Relevanz dieses Brauchs – auch über die Landesgrenzen hinaus – aus.
Noch gerade 6740 Alpen wurden 2021 bewirtschaftet
Aber während der Tierbesatz in den Sömmerungsgebieten seit dem Jahr 2000 einigermassen stabil geblieben ist, ist die Zahl der beitragsberechtigten Sömmerungsbetriebe – wer hätte es gedacht – über die Jahre hinweg stark gesunken: Von über 10'000 Alpen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf 6740 im Jahr 2021. In der gleichen Periode ist gemäss dem neusten Agrarbericht die Zahl der Milchkühe und Rinder um je 10 % gesunken – die Zahl der Schafe und Pferde um rund 25 %. Dafür werden heute dreimal mehr Mutterkühe gesömmert und 20 % mehr Ziegen als noch vor 22 Jahren. Dennoch trägt die Alpwirtschaft einen erheblichen Teil zu den inländischen landwirtschaftlichen Produkten bei.
Und mit über 500'000 Hektaren macht das Sömmerungsgebiet immer noch 35 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Schweiz und 10 % der gesamten Landesfläche aus. Nun was läuft auf diesem Zehntel unseres Landes ab? Kann sich die Alpwirtschaft den ständig verändernden Anforderungen anpassen oder ist das gar nicht verlangt? Müssen wir die Art und Weise der heutigen Alpwirtschaft überdenken oder geniesst die Sömmerung einen Sonderstatus? Und wie sieht es betreffend Umsetzung des Tierschutzgesetzes in den Staffeln aus? Beinhaltet die Sömmerung den ökonomischen, ökologischen und sozialen Pfeiler der Nachhaltigkeit?
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Beiträge für die Offenhaltung der Alpweiden
Solche Fragen sind zwar unangenehm, regen aber zum Nachdenken an. Mittlerweile ist es ein offenes Geheimnis, dass die Sömmerung von Milchkühen und Rindern ohne Direktzahlungen ein Verlustgeschäft wäre: 370 Franken erhält der Talbetrieb jährlich pro Tier in Form eines Alpungsbeitrages. Dieser Beitrag wird allerdings nur dann ausbezahlt, wenn das Tier mindestens 100 Tage gesömmert wurde. Ergänzend zahlt der Bund ein Sömmerungsbeitrag von 400 Franken pro Milchkuh. Entspricht die Bestossung 75 % bis 110 % des Normalbesatzes, wird der Sömmerungsbeitrag auf Basis des Normalbesatzes ausgerichtet. Übersteigt oder unterschreitet die Bestossung den Normalbesatz, wird der Beitrag reduziert, gar nicht ausgerichtet oder anhand der tatsächlichen Bestossung berechnet. Zum Sömmerungsbeitrag hinzu kommt der Zusatzbeitrag von 40 Franken pro Milchkuh, Milchschaf und Milchziege für die effektive Bestossung.
Diese Beiträge und weitere werden gezielt dafür ausgerichtet, die Alpweiden vor Verbuschung und Vergandung zu schützen und Problemkräuter zu bekämpfen. Doch damit stellt sich direkt die nächste Frage: Wie sollen Älplerinnen und Älpler in Zukunft mit den vielen Zielkonflikten umgehen? Für die Pflege der Weiden reissen wir diejenigen Pflanzen aus, welche für die Fauna, wie die Spinne und das Hummeli am wertvollsten sind. Aber um die Qualität der Weide aufrechtzuerhalten (und eben die Beiträge in Anspruch nehmen zu dürfen) müssen Unkräuter wie die Distel, die Blacke, das Jakobskreuzkraut oder der Gelbe Enzian möglichst vor dem Versamen entfernt werden.
Wie lange machen das die Bauernfamilien noch mit?
Während das Dossier «Alpsaison» zur Zeit noch im Stapel der zu beurteilenden Unesco-Projekte liegt, ziehen in diesen Tagen die letzten Herden zu Tal und mit ihnen zügeln ihre Älper und Älplerinnen mit einem Kopf voller Gedanken und Erinnerungen zurück «ins andere Leben». Gut möglich, dass einer dieser Gedanken Selbstkritik auslöst und sich manch einer die Frage stellt, wie lange die Bauernfamilien diese reiche Tradition aufrecht erhalten können?
Die jetzige Jahreszeit bietet eine gute Gelegenheit, sich bewusst zu werden, was die Kandidatur für das immaterielle Unesco-Weltkulturerbe bedeutet. Wenn die agrarökonomischen und -ökologischen Argumente den heutigen Anforderungen an eine standortangepasste Bewirtschaftung des Alpgebiets nicht mehr ausreichen, dann wenigstens die Tradition. Immerhin ziert das Soziale die dritte Ecke des Nachhaltigkeitsdreiecks. Sollte es wirklich so weit kommen, dass das Senntum den Titel des Unesco-Weltkulturerbes trägt, werden ihm die Bauernfamilien alle Ehre machen.