Noch ist alles recht klein und überschaubar, die Blätter von Krautstiel, Rucola und Pak Choi werden von Hand und teilweise mit dem Pinsel gereinigt. Aber die Growcer AG hat Grosses vor, und der Verkaufsstart des ersten Blattgemüses in der Migros Dreispitz in Basel am 16. Juni 2020 ist ein wichtiger Schritt. Denn das erklärte Ziel des Unternehmens ist es, die Skalierbarkeit von Vertical Farming zu beweisen, wie an einem Medienrundgang durch die Produktionshalle in Basel erklärt wurde.
Gemüse wächst an drei Meter hohen Wänden
«Wir arbeiten mit einem dualen System und setzten jeweils dort Handarbeit oder automatisierte Abläufe ein, wo es Sinn macht», meint Marcel Florian, CEO von Growcer. Die Handarbeit umfasst heute das Säen, Pikieren, Ernten und Verpacken von Pak Choi, Wasabi Rucola, Federkohl, Mangold, rotem und grünem Schnittsalat. «Zwei Wochen nach der Aussaat kommen die Pflanzen in die Tower», führt Florian aus. Als «Tower» bezeichnet er die vertikalen Hydrokultur-Balken, die, zu drei Meter hohen Wänden zusammengestellt, in einem klimatisierten Raum gezielt mit LED-Licht beleuchtet werden. Im Schnitt dauert es vier Wochen von der Aussaat bis zur ersten Ernte. Nach zehn Tagen können - je nach Gemüsesorte - erneut Blätter von derselben Pflanze gepflückt werden.
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Je nach Stadium werden die Pflanzen mit unterschiedlichen Lichtspektren beleuchtet. Dafür arbeitet Growcer mit Pflanzenphysiologen zusammen. (Bild jsc)
Ökostrom, weniger Wasser, kaum Pflanzenschutzmittel
Growcer betont die Nachhatligkeit des Projekts. Man verwende ausschliesslich Ökostrom (ein Gemisch aus Solarenergie und Wasserkraft), verbrauche 90 Prozent weniger Wasser als der konventionelle Anbau und produziere «weitestgehend pestizid-frei». Nützlinge oder Pflanzenschutzmittel würden demnach nur dann eingesetzt, wenn ein Befall auftrete. «Die meisten Erreger, wie etwa Pilzsporen, kommen durch die Luft. Und die wird hier gefiltert», heisst es bei Growcer. Daher, und weil normalerweise nur wenige oder gar keine Menschen in die Produktionshallen kommen, sei das Risiko einer Krankheit oder eines Schädlingsbefalls eher klein.
Die Verpackung des vertikal-gewachsenen Blattgemüses besteht aus einer Kartonschale mit einem Pet-Deckel, alles «zu 100 Prozent recyclierbar».
Wieso nicht 24-Stunden-Beleuchten?
Growcer schaltet die LED-Beleuchtung in den Produktionshallen nachts (ab 19 Uhr) ein und verschafft den Pflanzen damit 12 bis 16 Stunden Zeit für die Photosynthese. Mehr Licht könne für das Gemüse kontraproduktiv sein, führt Marcel Florian aus: «Zum Teil werden die Pflanzen dadurch gestresst und es gibt negative Effekte auf das Wachstum», meint er.
Eigener Strom ist in Planung
«Wir beleuchten normalerweise nachts, wenn es draussen kühler ist und weniger Strom von anderen Verbrauchern genutzt wird», erklärt Marcel Florian. So könne man die Wärme der LED-Lampen einfacher ausgleichen und zugleich den Nachttarif nutzen. Ausserdem sei eine Photovolatik-Anlage auf dem Dach der Halle geplant, damit sich die Farm selbst mit Energie versorgen kann.
Ein Makel in Sachen Nachhaltigkeit ist das Substrat für die Anzucht. Dabei kommt ein Gemisch aus Kokoswolle und Torf zum Einsatz. «Langfristig planen wir, auf Steinwolle umzustellen», versichert der CEO. Die schwarze Kunststoff-Matrix in den Towern wird nach Gebrauch gewaschen und wiederverwendet.
«AdR-Produzenten sind an erster Stelle»
Dass die Vertical-Farm-Produkte regionale Produzenten konkurrenzieren könnten, dem widerspricht Reto Böhner von der Migros Basel. «Unsere ‘Aus der Region – für die Region’-Produzenten stehen immer an erster Stelle», führt er aus. Man sei im Gespräch mit Landwirtinnen und Landwirten, habe auch schon zwei grosse Produzenten durch die Halle geführt. Das Ziel der Vertical-Farming-Produkte sei es vielmehr, Importe zu vermeiden. «Mit der bisherigen Palette an Blattgemüse konkurrenzieren wir keinen Produzenten, und für den Ausbau des Sortiments sind wir mit ihnen in Kontakt», erklärt Böhner.
Darin, dass die Ernte unabhängig von Witterung und Saison ist, sieht Marcel Florian von Growcer einen Vorteil: «Wir können den Konsumenten einen schwankungsfreien Jahrespreis bieten», meint er. Da der Anbau für alle bisher verfügbaren Produkte gleich ist, werden Pak Choi, Rucola, Federkohl und Co. auch jeweils zum gleichen Preis verkauft.
Gemüse aus der Vertikalen – ist das gesund?
Pflanzen bilden sekundäre Pflanzenstoffe vor allem als Schutz vor Fressfeinden oder bei Stress. Davor sind sie in den Hallen von Growcer geschützt – ist dieses Gemüse daher weniger Nährstoffreich, als solches vom Feld? Im Gegenteil, so tönt es bei Growcer: «Messungen haben ergeben, dass unser Rucola 30 Prozent mehr Vitamin C enthält», meint Marcel Florian. Auch die Nitratgehalte seien deutlich tiefer. Den höheren Vitamin-C-Gehalt erreiche man dadurch, dass vor der Ernte die LED-Lampen blaues Licht auf die Pflanzen strahlen, was diese stresst. «Ausserdem landet unser Gemüse innerhalb einer Stunde nach der Ernte im Verkaufsregal, Transport und Lagerung entfallen», betont Florian die Frische der Produkte.
Dass es beim Anbau ausserhalb des Bodens (Hors-Sol) keine Qualitätseinbussen gibt, bestätigt auch Cédric Camps von Agroscope.
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Der Geschmackstest des zur Degustation mitgegebenen Gemüses fällt positiv aus. Die Blätter sind knackig und haben ein intensives Aroma. (Bild jsc)
1000 Quadratmeter Anbaufläche auf 400 Quadratmetern Grundfläche
Ausbauen kann man noch Einiges. Die 30 Meter lange Zeile von in Wänden angeordneten Towern wirkt in der grossen Halle fast ein wenig verloren. Eine Tonne Blattgemüse pro Jahr oder 18 bis 27 Päckchen pro Tag werden heute in Basel hergestellt. Die Fläche von 400 Quadratmetern bietet dank dem Anbau in der Vertikalen Platz für einen Anbaufläche von 1000 Quadratmetern. «Möglich wären hier in Basel acht Tonnen pro Jahr», so Marcel Florian.
Die Migros für ihren Teil will aber an der Regionalität festhalten. «Wir stellen uns dezentrale Farmen vor, die jeweils regional die Filialen beliefern», erläutert Reto Böhner. Das Potenzial sei schwer abzuschätzen, «in fünf bis 10 Jahren könnte der vertikale Anbau angesichts des Klimawandels aber wichtiger werden», meint er.
Nächstes Ziel: Beeren
Neben Blattgemüse will Growcer in Zukunft verschiedene Beerensorten anbieten. Erdbeerpflanzen gedeihen bereits im violetten Licht der Anzucht-Kammer. Für die Bestäubung sieht der CEO verschiedene Möglichkeiten, z. B. von Hand oder mit einer Hummelbox in der Anlage. Das Ziel sei auch hier, Importe zu vermeiden, statt eine Konkurrenz zur inländischen Produktion aufzubauen. «Erdbeeren planen wir vor allem ausserhalb der Saison, von November bis Januar, anzubieten», so Reto Böhner.
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Die Pflanzen (hier eine erste Erdbeere) bilden in der Hydrokultur typischerweise ein besonders grosses Wurzelwerk aus. (Bild jsc)
Weitere Projekte in der Schweiz und in Dubai
Mit dem Verkaufsstart sollen in erster Linie die Migros-Kunden auf das neue Angebot und die ungewöhnliche Anbauweise aufmerksam gemacht werden. Dazu sind die Packungen mit einem QR-Code ausgerüstet und es werden Flyer ausgelegt.
Growcer hat ein Projekt für drei Verteilzentren in der Ostschweiz und möchte nicht nur die Migros, sondern auch Coop und Spar beliefern. Ausserdem will das Unternehmen international aktiv werden. «Im Moment arbeiten wir auf eine Anlage in Duabai hin», erläutert Marcel Florian. Im Wüstenstaat sei die wassersparende Technik attraktiv, auch weil das Land grosse Mengen an Lebensmitteln importieren müsse.
Einen Fokus legt Growcer auch auf die Entwicklung von Saatgut, das speziell für Vertical Farming gezüchtet werden soll. Dank der kontrollierten Anbaubedingungen könne man auf Resistenzen verzichten und dafür stärker auf Geschmack und Wachstumsgeschwindigekeit hinarbeiten.