Charissa Enns schüttelt den Hafer im rosaroten Eimer und pfeift. Ihre Pferde spitzen die Ohren. «Schnell, hinter mich!» ruft sie ihrer kleinen Tochter zu, als die sechs Tiere im Galopp daher kommen. Über ihnen erstreckt sich ein unendlicher Himmel. Der laue Wind zerzaust Charissa und Maddies Haare und schmilzt den letzten Rest vom Schnee, der sechs Monate lang den Boden bedeckte. Endlich Frühling!

Fast jede Maschine bedient

Frühling auf der Creek Bank Farms in der kanadischen Provinz British Columbia heisst, 2600 Hektaren mit Getreide ansähen. Zuhause belegen die wuchtigen Maschinen den Hofplatz, der so gross ist wie ein Schweizer Feld. Charissa Enns' Vater Walter und ihr Bruder Jeff sind mit zwei Mitarbeitern voll beschäftigt, alles für das Säen vorzubereiten. Die Raupen des 400-PS-Traktors sind so hoch wie die junge Frau. Ausser dem 
20 Meter breiten Sägerät bediente sie schon jede Maschine auf der Farm.

Die beste Option für Maddie

Charissa Enns ist als ältestes von vier Kindern auf dieser Farm aufgewachsen – 60 Kilometer entfernt von Dawson Creek, der Stadt am Anfang des berühmten Alaska Highways. Zur Farm gehören eine Bisonherde von 200 Tieren sowie 60 Mutterkühe, die ihrer Mutter Dolores und der Schwester Bailey gehören. Charissa kam vor sieben Jahren hierher zurück, nach einer kurzen Ehe und schwanger mit der Tochter Maddie. «Dies ist für sie unter den gegebenen Umständen die beste Option», glaubt Charissa Enns. Hier kann Maddie geborgen in der Grossfamilie aufwachsen. Sie selbst macht ein Online-Studium zum Bachelor in Naturwissenschaft und Psychologie, das sie in einem Jahr abzuschliessen hofft. Dazu hat sie ein Einkommen von der Mitarbeit auf der Farm.

Unterricht zuhause

Auf der Kochinsel in der Küche liegt ein Schulheft. Nebst ihrem eigenen Studium und ihrer Arbeit unterrichtet Charissa Enns ihre Tochter zuhause. Die Erstklässlerin müsste sonst morgens und abends eine Stunde im Schulbus verbringen. «Meine Mutter hilft mir mit Maddies Unterricht.»

Maddies Schuljahr fängt nach der Getreideernte Mitte Oktober an und endet Ende April vor dem Säen. Langweilig wird es dem Mädchen nie. «Ich kaufte ihr ein Pony, aber sie führt am liebsten mein altes Pferd Blitz an der Leine herum», lacht Charissa Enns und zeigt ein Foto von Maddie und Blitz. Ihr ist bewusst, dass Maddie mehrheitlich Erwachsene um sich hat. Sie möchte ihr die Teilnahme bei einem Sportverein gönnen. Aber die Zeit dazu fehlt schlichtweg. Die Mutter und Schwester kommen zurück vom Vieh besorgen, wenig später tritt der Vater vom Hofplatz ein.

Mähdrescher fahren

Charissa Enns zieht Platten mit BBQ-Rindfleisch, Backkartoffeln und Spargeln aus dem grossen Ofen. «Ich bin die hauptsächliche Köchin», erklärt sie. Während der Säsaison streicht sie am Morgen für die Familie die Brötchen für das Mittagessen, das unterwegs genossen wird. Dann bereitet sie das warme Nachtessen vor – die Mitarbeitenden hinzugerechnet, gilt es für acht bis zwölf Personen zu kochen. Dazwischen bringt sie den Lastwagen mit Dünger und Saatgut aufs Feld und hilft beim Befüllen der Sämaschine. Oder sie fährt nach Dawson Creek für Maschinenbestandteile. Dabei kann sie Maddie gut mitnehmen.

Im Herbst ist Charissa Enns auf dem Mähdrescher zu finden. Der Morgen beginnt mit dem Auftanken und Reinigen der grossen Maschinen. Die Erntetage reichen oft bis tief in die Nacht hinein. Es gab Jahre, da musste Charissa Enns früh aufstehen und noch lernen für ihr Studium. Der lange Winter gehört der Schule – für Mutter und Tochter: «Da bin ich hauptsächlich am Lernen und Lehren, Kochen und Putzen!» 

Viel Zeit bleibt nicht für ein soziales Leben. Letzten Winter nahm sie mit einer Freundin an einem Tanzkurs teil. «Das war toll!» Am Sonntag gehts in die Kirche. Maddie besucht die Sonntagschule, was ihr Kontakt mit anderen Kindern ermöglicht. Der Glaube ist ein fester Bestandteil von Charissa Enns' Leben.

Drei Generationen

«Pferde gehörten schon immer zu meinem Leben», sagt sie, und zeigt auf die Reitarena hinter der Werkstatt, welche sie letzten Sommer gebaut hat. Hier reitet sie die jungen Pferde zu. Viele Arbeiten mit dem Vieh werden im Sattel ausgeführt.

Drei Generationen unter einem Dach und am gleichen Tisch – wie funktioniert das? Charissa Enns wickelt eine Strähne ihres langen blonden Haares um den Finger. Eine gute Kommunikation untereinander sei unerlässlich, sagt sie. «Wir wohnen so nahe aufeinander. Es ist wichtig, einander zu verzeihen und zu bedenken, dass der andere eigentlich nicht vorhatte, mich zu verletzen.»

«Das Tolle am Leben auf der Farm ist die Vielfältigkeit», erläutert Charissa Enns. »Und dass ich Maddie bei mir haben kann, auch bei der Arbeit. Ich wollte nicht, dass sie in eine Kinderkrippe muss.»

Marianne Stamm