Herbst 1964. Es ist eines meiner Lieblingsfotos, von einem Spaziergang den Feldern entlang am Sonntagnachmittag. Mein Vater im weissen Hemd und halbleinenen («halbliinige») Gilet. Meine Schwestern, die Arme voll mit wilden lila Herbstastern und Goldruten. Ich in den «Tigerli-Latzhosen» aus der Schweiz. In der Luft lag sicher der Geruch von reifem Hafer und vom goldenen Herbstlaub. Eine idyllische Erinnerung.

Stetes Hoffen auf zeitigen und ausreichenden Regen

DossierDossierKanada einfachDonnerstag, 10. August 2023 Wie viel Arbeit, wie viel Bangen über Wochen und Monate gingen diesem Foto voraus. Bangen, ob es zeitig und genug regnen würde. Für den Bauer aus dem Thurgau würde es zeit seines Lebens in Kanada – immerhin fast 60 Jahre – selten genug regnen. Auch nicht in diesem ersten Jahr und er musste sich noch an viel trockenere Jahre gewöhnen.

Ich erinnere mich, wie er mir einmal am Telefon klagte, als es wieder mal zu wenig regnete: «Kaum hat man dem lieben Gott Danke gesagt, hört es wieder auf!» Gut, das haben unsere Schweizer Bauern besonders 2023 sicher auch gedacht. Aber in Cecil Lake ist es noch wesentlich trockener als hier.

Das Bangen um die kostbare Saat

Dann das Bangen – wird das Getreide reif, ehe der Frost kommt? Nein, nicht ganz. Der erste Frost kam – wie übrigens auch heuer in Cecil Lake – in der ersten Septemberwoche. Das war eigentlich ganz normal. Aber unser Dad war durch die vielen Arbeiten zur Saatbettbereitung im Frühjahr zehn Tage zu spät dran.

«Ein Tag im Frühling ist eine Woche im Herbst», mahnte man uns, als Robert und ich später selbst eine Getreidefarm in Alberta führten. So «krass» ist es nicht, aber es hat etwas Wahres. Die Getreidekörner waren 1964 noch nicht alle gut ausgereift. Das sollte sich im nächsten Frühjahr rächen, wenn der Bauer seinen eigenen Weizen zum Säen verwenden würde.

Drei Wochen lang ernten

Drei Wochen brauchten meine Eltern zum Schneiden der 65 Hektaren Getreide. Meine Mutter steuerte den Fordson-Major-Traktor, Dad sass hinten auf dem Binder. Wenn sieben Garben fertig waren, zog er den Strick, um sie auf dem Boden abzulegen.

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Wo wir Kinder wohl in dieser Zeit waren? Ich ging ja schon zur Schule. Ich weiss es nicht mehr. Dad erzählte, dass sie uns immer in der Nähe behielten. Wahrscheinlich spielten wir am Feldrand. Helen war erst etwa sieben Monate alt und brauchte noch den Schoppen. Vielleicht dauerte die Ernte deshalb drei Wochen. Die sechs Kühe wollten auch immer noch gemolken werden, die Milch zentrifugiert und die Kälber gefüttert werden. Mom hatte keine Unterstützung im Haushalt.

Als sie mit dem Binden fast fertig waren, brach ein wichtiger Bestandteil an der Maschine. Weil der Binder schon so alt war, hatte dieses Teil niemand auf Lager. Da erbarmte sich der alte Nachbar Konrad Thompson. Kurzerhand demontierte er das gleiche Teil von seiner Maschine und lieh es uns. Ich weiss nicht, wie wir ohne Nachbarn zurechtgekommen wären. Aber es ging allen gleich, wir brauchten einander.

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Ein beliebter Vagabund

Das Puppenaufstellen übernahm ein Russe, Johnny Rubazuk. Dad sprach immer von Rubazuk, wie alle ihn nannten, als einem Vagabunden. Sicher ist: Er zog von Farm zu Farm und führte verschiedene Gelegenheitsarbeiten aus, wie eben Puppen aufstellen oder Wurzeln auflesen. Meist hatte er einige Kleiderschichten am Leib und einen Rucksack auf dem Buckel.

Ein Nachbar erzählte einmal, wie sich Rubazuk nach einem heftigen Regen im Strassengraben wusch, nur mit dem Hut bekleidet. Wir Kinder liebten ihn. Er hatte immer ein paar «Zeltli» für uns, die er aus seinem Hosensack kramte. Wir hatten keinerlei Bedenken, wie es in diesem Hosensack aussehen könnte. Meine jüngste Schwester erzählte mir kürzlich, wie sie seine Zigarrenstummel vom Boden auflas und am Ende saugte, sie schmeckten nach Wein.

Ein Erntetag wie früher

Ein lediger Farmer, Bob Hall, besass die Dreschmaschine, die mit einem langen Riemen von einem Traktor angetrieben wurde. Damit zog er zu den Nachbarsfarmen, auch zu Dad. Die Puppen waren auf Wagen geladen, welche mit Pferden oder Traktoren zur Dreschmaschine gefahren wurden. Dad insistierte, dass die Dreschmaschine so aufgestellt wurde, dass das Getreide direkt ins dafür bereitgestellte Getreidehäuschen (Granary) gefördert wurde. Alles musste so aufgestellt werden, damit die Arbeiten zügig abliefen. Die Granary musste an den rechten Ort und auf Holzbalken gestellt werden, so ging das gut.

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Vor ein paar Jahren durfte ich wieder so einen Dreschtag miterleben. Ein Nachbar erntete immer einen kleinen Teil seines Getreides nach der alten Methode, damit seine Kinder und Nachbarn nicht vergassen, wie es einst war. Während einer Stunde schufteten meine Schwester und ich auf dem Wagen, warfen die Garben in die Dreschmaschine. Der Respekt für unsere Eltern und ihre Generation wuchs erneut.

Seinen ersten Getreideertrag erachtete Dad als etwas klein, obwohl er später lernen würde, dass er eigentlich mittelmässig ausfiel für dieses Land. Der limitierende Faktor ist einfach der Regen. Und das Bangen war nach der Ernte noch nicht ganz vorbei. Wann würde der erste Schnee kommen? Und würden wir mit allen Arbeiten fertig werden, ehe der Winter weiss und kalt Einzug halten würde?

Zur Person:

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH.[IMG 5]

Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.