Was hat sie gedacht, meine Mutter Helen Lehmann, als sie das erste Mal die Wäsche hier aufhängte, am Rand vom kanadischen Busch? Freute sie sich auf die Herausforderung, hier eine Heimat für sich und ihre Kinder aufzubauen? War es ihr bange?

Es war ja ein krasser Unterschied zum Neuhaus, dem Bauernhof im Thurgau, den sie mit ihrem Mann Gottlieb und den vier kleinen Mädchen, alle unter sechs Jahren, vor einem halben Jahr verlassen hatte. Ich kann sie nicht mehr fragen. Ich weiss nur, dass sie diese neue Heimat lieben lernte.

Mutter wäre lieber geblieben

Wäre es nach ihr gegangen, wären sie in der Schweiz geblieben; hätten ein kleines Heimetli in der Nähe ihrer Familien gekauft. Meine Grosseltern beiderseits hätten das begrüsst. Aber mein Vater hatte einen Traum und dafür waren die Heimetli im Thurgau zu klein. Schon als Kind träumte er von Amerika oder Kanada, wo es viel Land mit Platz für viele Kühe gab.

So wanderten meine Eltern im April 1963 nach Kanada aus. Ich war gerade fünf Jahre alt. Anfang September des gleichen Jahres zogen wir in das lachsfarbene Häuschen im Bild. Auf eine Pionierfarm im Norden von British Columbia (BC), wo weisse Farmer 50 Jahren davor das Land zu besiedeln begonnen hatten.

Eigentlich hätte mein Vater lieber eine Milchfarm im zivilisierten Süden von BC, im Fraser Valley östlich von Vancouver, gekauft. Aber dafür reichte ihm das Geld nicht, das er mitnehmen konnte. (Damals brauchte es vier Franken für einen kanadischen Dollar, heute noch 72 Rappen.) So reiste er in den Norden der Provinz, wo das Land viel billiger war. Er logierte bei der Familie Wüthrich in Fort St. John, auf der Farm, wo sein Bruder einige Jahre vorher gearbeitet hatte. So fand Dad die kleine Farm in Cecil Lake.

Vater war wohl ein Visionär

Der Preis stimmte, die Schule lag genau gegenüber. Ein wenig offenes Ackerland und Weide, genug für die paar Kühe, die er sich leisten konnte. Der Rest war Wald. Die letzten Eigentümer hatten im rosaroten und weissen Häuschen ohne Wasseranschluss oder Telefon gewohnt. Das lachsfarbene im Wald wurde später dem rosaroten angebaut. Mein Vater musste ein Visionär gewesen sein, um hier seinen Traum von einer grossen Milchfarm zu sehen.

Dad kündigte seine Stelle als Melker beim Zellweger im Süden. Er grub seine Kartoffeln aus, die er mit Leidenschaft gesetzt hatte, als sie dort im April angekommen waren, und lud sie mit allem Hab und Gut auf einen klapprigen alten Lastwagen. Er schickte meine Mutter mit den zwei kleineren Mädchen per Flugzeug zu den Wüthrichs. Als meine Mutter im Norden ankam, wollte sie unbedingt ihr neues Zuhause sehen. Frau Wüthrich weigerte sich, mit ihr zu gehen. Sollte Gottlieb ihr das schäbige Zuhause, in das sie ziehen sollte, selbst zeigen! Es war Herbst, Indian Summer in den schönsten Farben. Mom war begeistert von diesem wunderschönen Land. Sie pflückte die letzten Bohnen mit Frau Wüthrich und erlebte den ersten Frost.

«Chasch Bärndütsch rede»

Meine Schwester Barbara und ich durften mit Dad im Lastwagen fahren. Was für ihn ein langer, beschwerlicher Weg war – immer die Angst im Nacken, der Lastwagen stehe still –, war für uns ein Abenteuer. Wenn er anhielt, suchten wir einen Baum zum Klettern.

Einmal hielt er vor einer Garage und versuchte mit seinem sehr holprigen Englisch, sein Anliegen vorzubringen. «Chasch scho Bärndütsch rede», sagte der Eigentümer lachend. Unsere Eltern besuchten diese Schweizer immer wieder mal auf ihren späteren Reisen.

Ich weiss nicht mehr, was meine Mutter sagte, als Dad mit ihr auf der Farm ankam. Nur dass der Lehrer, der mit seiner Familie vis-à-vis bei der Schule wohnte, uns am selben Abend zum Nachtessen einlud. Er war Mennonit und konnte ein wenig Deutsch. Welch eine Wohltat diese Geste war. Die Lehrersfamilie wurde zu engen Freunden von uns Kindern und meinen Eltern.

Der erste Winter kam früh und hart …, aber davon das nächste Mal.

[IMG 4]
Zur Person
Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH. Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.