Wir kamen am 17. September 1963 auf unserer Farm an, der Winter lauerte vor der Türe. Hatten meine Eltern eine Ahnung, was es heisst, sich für einen kanadischen Winter vorzubereiten?

Ein Stall für die Kühe

Dad kaufte zwei Milchkühe, die brauchten eine Unterkunft. Wer kein Geld hat, weiss sich sonst zu helfen: Er fällte einige Bäume und stellte daraus ein Gerüst für den Stall auf. Aus dem Strohhaufen, welchen der letzte Besitzer hinterlassen hatte, wurden Ballen gepresst, die Dad für die Wände benutzte. Dad war seiner Zeit voraus – heute baut man ganze Häuser mit Strohballen und nennt sie Ökohäuser.

Wasser aus Schnee

Ein Kanadier wurde angestellt, um für uns einen grossen Wasserweiher zu graben, mit einer Leitung zum Haus. Dieser füllte sich dann im kommenden Frühjahr mit Schmelzwasser, erst dann floss das erste Mal Wasser ins Haus.

Meine schwangere Mutter schmolz im ersten Winter Wasser aus Schnee zum Kochen und Trinken, davon hatte es ja genug. Mit der Axt hieb Dad ein Loch ins Eis vom kleinen Weiher, etwa 50 Meter entfernt, und brachte das trübe Wasser in Kesseln ins Haus.

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Der erste Winter kam zu früh

Zum Toilettenspülen brauchte es damals noch kein Wasser. Das WC war das kleine Holzhäuschen mit einem Plumpsklo hinter dem Haus.

Der erste Winter kam früh und hart. Zu früh. Das Haus am Waldrand war noch auf Stelzen, als es im Oktober schneite. Am 18. November fiel das Thermometer auf -38 Grad. Unsere Finken froren am Boden unter dem Holzofen an. Meine kleine Schwester, die noch nicht gehen konnte, musste auf dem Esstisch spielen.

Zum Glück hatte die Familie Wüthrich in Fort St. John – dort, wo Dads Bruder einige Jahre vorher gearbeitet hatte – Mitleid und nahm meine Mutter und uns Kinder zu sich, bis das Haus winterhart gemacht worden war. Meiner Mutter erzählte später öfters davon, wie sie mit Ruth Wüthrich am Nähen war, als im Radio das Attentat auf den damaligen US-Präsidenten Kennedy verkündet wurde. Ruth Wüthrich habe sogleich zu weinen angefangen.

Apfelkisten als Bäbiwagen

Vor Weihnachten besuchten uns einige Frauen von der Lutherischen Kirche in Fort St. John. Die meisten Schweizer in der Gegend gingen da zur Kirche, wie auch wir, wenn möglich.

Die Frauen wollten der armen Schweizer Familie eine schöne Weihnacht ermöglichen. Sicher brachten sie einiges an Essen – wahrscheinlich einen Truthahn oder einen Schinken, so, wie es in Kanada üblich ist.

Ich weiss nur, dass jede von uns vier Schwestern ein wunderschönes Bäbi mit langen glänzenden Haaren bekam. Meine jüngere Schwester schnitt kurzerhand das Haar von ihrem Bäbi ab. Im Sommer zogen wir unsere Puppen die staubige Einfahrt hinauf und hinunter.

Als Bäbiwagen genügten uns Apfelkisten, gezogen mit Bindschnur von den Strohballen. Wie Dad in seinem Buch «Kanada, mein neues Heimatland», welches leider vergriffen ist, schrieb: Es braucht nicht viel, damit Kinder glücklich sind.

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Nicht einfach für Mom

Ich habe keine Erinnerungen an die erste Weihnacht. Dad schreibt, wie wir Kinder es lustig hatten. Wie er und Mom es genossen, diese ersten Weihnachten mit uns Kindern zu feiern; aber auch davon, wie sie ihre Schweizer Familien vermissten. Es stimmt, wir Kinder fühlten uns geborgen und wohl. Wir hatten einander und den Wald zum Spielen, Eltern, die uns liebten, und viel Freiheit.

Das erste kanadische Mitglied unserer Familie kam im Februar zur Welt. Helen war ein sonniges Kind, das viel lachte. Meine Mutter erzählte mir einmal, Helen müsste eigentlich das trübsinnigste Kind von uns allen sein, wenn es nach ihrer inneren Verfassung gegangen wäre. Es war keine leichte Zeit für sie.

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Zur Person

Marianne Stamm ist 1963 fünfjährig mit den Eltern vom Thurgau nach Cecil Lake ausgewandert. Dort, weit nördlich im kanadischen British Columbia ist sie auf einer Pionierfarm aufgewachsen, welche zu einer stattlichen Milchfarm heranwuchs. Als ältestes von sieben Geschwistern kam sie mit 21 zurück in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewirtschaftete sie für zwölf Jahre den Emmerhof in Schleitheim SH. Ende 1991 wanderte die Familie mit den zwei Söhnen (10- und 11-jährig) ein zweites Mal nach Kanada aus. Nördlich von Edmonton bewirtschafteten Stamms eine 580-ha-Getreidefarm. Sie fingen wie schon die Eltern noch einmal bei null an, und doch ganz anders. Weil keiner der Söhne die Farm übernehmen wollte, wurde sie 2006 verpachtet. Seit 2012 ist die regelmässige BauernZeitung-Mitarbeiterin wieder in Schleitheim zu Hause. Die Kinder und Enkel halten sie hier.