Thema der Woche
In der Woche vom 11. August publiziert die BauernZeitung Informationen und Geschichten rund um das Thema Pflege von Angehörigen.

Direkt vor dem Bundeshaus steht er, der Marktwagen der Familie Reusser. Während Anita Binkert die Glasscheiben vor der Fleischauslage putzt, gönnt sich Sohn Adrian Reusser eine Pause und hört über Kopfhörer Musik. «Adrian ist an den Markt-Tagen immer dabei», sagt seine Mutter. «Er hilft mir jeweils beim Aufstellen und später beim Zusammenräumen.» Adrian Reusser arbeitet zudem auf dem Hof der Familie in verschiedenen Bereichen mit, was nicht selbstverständlich ist. Denn der 26-Jährige hat seit seiner Geburt eine Beeinträchtigung.

Szenenwechsel in die Küche der Familie nach Unterlangenegg BE bei Steffisburg, wo Anita Binkert, ihr Mann Fritz Reusser und Sohn Adrian leben. «Unser Landwirtschaftsbetrieb ist eine Generationengemeinschaft mit mehreren Standorten», erklärt sie bei einem Kaffee.

Der Standort Rufenen, seit sieben Generationen in Familienbesitz, liegt auf dem Gebiet der Gemeinde Eriz und in der Bergzone 1 und 2. Die Familie bewirtschaftet hier 45 ha Land mit 30 Milchkühen sowie 26 Zwergzebu-Kühen und deren Nachkommen. Dazu halten sie fünf bis sechs Stiere, die zum Teil als Zuchtstiere auf anderen Betrieben stehen. Hier lebt zudem Tochter Beatrice Fuchser, gelernte Metzgerin und Landwirtin, mit ihrer Familie.

Der Standort im zehn Kilometer entfernten Unterlangenegg mit seinen sieben ha Land in der Bergzone 1 wird hauptsächlich für den Futterbau und als Standbein für die Direktvermarktung genutzt. Dazu kommt ein Pensionsstall für sieben Pferde.

Als das Direktzahlungssystem änderte und die Sömmerungsbeiträge am Standort Rufenen für fremde Tiere gestrichen wurde, kamen die Zwergzebus. «Mein Mann und ich mussten uns überlegen, wie wir das Land weiter landwirtschaftlich nutzen wollten. Denn wir haben viele Weiden, aber wenig Platz für Futterbau und beide haben wir keine Freude an Schafen und Geissen.»

Überraschende Entwicklung

Sohn Adrian Reusser arbeitet Teilzeit an beiden Standorten mit. «Der Grund für seine Beeinträchtigung ist wahrscheinlich eine Gehirnblutung kurz vor der Geburt», erzählt seine Mutter. «Mit fünf Monaten wurde festgestellt, dass sein Hirn geschädigt und er halbseitig gelähmt war. Die Ärztin konnte sich damals nicht vorstellen, dass er jemals würde laufen können.»

Doch Adrian Reusser überraschte die Fachleute. Er lernte nicht nur laufen, sondern besuchte, mit heilpädagogischer Unterstützung, bis in die 7. Klasse die Regelschule im Dorf. «Wir liessen ihn so viel wie möglich selbst machen. Dadurch wurde er selbstständiger», erzählt seine Mutter weiter. Nicht immer war der Alltag einfach, manches war für die Eltern schwer zu verkraften. Anita Binkert erzählt, dass ihr Sohn mit elf Jahren nach einem Epilepsie-Anfall klinisch tot war. «Doch im Inselspital konnten sie ihn retten und die Ärzte fanden ein Epilepsie-Medikament, das besser wirkte.»

Bereits als Adrian noch ein kleiner Bub war, nahm sie ihn täglich mit in den Stall. Schon früh sagte er ihr, welche Kuh an welchem Platz angebunden werden musste. «Er lernte mit den Augen, durchs Zuschauen und er hat viel Geschick für das Praktische entwickelt. Wir haben seine Stärken gefördert.» Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte Adrian Reusser eine Insos-Agrarpraktiker-Lehre in Grossaffoltern. «Das lief gut», so seine Mutter. «Auch das selbstständige Zugfahren, sofern alles nach Fahrplan lief. Und falls mal nicht, hatte Adrian ein Telefon dabei, um uns anzurufen.» Auf dem Lehrbetrieb wurde er geschätzt. «Er war zwar derjenige mit der stärksten Behinderung. Doch er hat in der Regelschule und bei uns gelernt, zu warten und Grenzen zu akzeptieren.»

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Angepasste Geräte

Care-Arbeit Bezahlte Angehörigenpflege: «Das Risiko einer Überforderung steigt» Montag, 11. August 2025 Heute geht Adrian Reusser täglich mit dem Vater auf den Betrieb in Eriz zum Melken. Eine orthopädische Beinschiene hilft ihm beim Gehen. Auf dem Hof wurden einige Geräte speziell für ihn angepasst. «Wir haben einen Melk-Halbautomaten so ausgerüstet, dass Adrian mit einer Hand die Zitzenbecher anhängen kann», erklärt seine Mutter. Den Heukran kann er ebenfalls selbst bedienen und Heu vom Tenn herunterstossen, dank einer Fernbedienung. Gern fährt er auch im Schritttempo auf dem Hof den Hoflader und den Traktor und er hat ein Flair fürs Technische. «Wenn er etwas im Kopf hat, dann ist er hartnäckig.», meint seine Mutter schmunzelnd.

Auf die Frage, ob sie froh um eine Entschädigung für den zusätzlichen Betreuungsaufwand wäre, schüttelt Anita Binkert den Kopf. Als Adrian noch zur Schule ging und zusätzliche Termine bei der Ergotherapie, der Logopädie und bei Ärzten hatte, haben sie eine Betreuungsentschädigung bekommen. «Heute bekommt Adrian selbst Hilflosenentschädigung und eine IV-Rente. Beides lassen wir auf seinem Konto.»

Adrian Reusser kommt in die Küche und grüsst mit leiser Stimme. Der 1,90 Meter grosse und nur 50 Kilo schwere junge Mann macht sich einen Tee und stellt sich die tägliche Medikamenten-Ration zusammen. «Gestern war er lange mit dem Vater am Werken. Davon musste er sich erst erholen», erklärt seine Mutter. Denn oft möge er nicht richtig essen, die Epilepsie-Medikamente, die er unter anderem nehmen muss, verursachen ihm Bauchschmerzen.

Ein Stück Eigenständigkeit

Den zehn Kilometer Weg zum Betrieb in Eriz legt Adrian Reusser am liebsten selbstständig zurück. Dafür hat er ein Spezial-Liegevelo, das er mit Stolz vorführt. Das rechte Bein mit der Schiene wird festgeschnallt, mit der linken Hand kann er das Velo über eine Art Joystick steuern und bei Richtungswechseln avisieren. «Damit kann ich blinken», sagt er, während er einen Schalter aktiviert. «Er liebt die Velo-Fahrten», ergänzt seine Mutter. «Sie geben ihm ein wenig Eigenständigkeit.»

Für Adrian Reusser und seine Eltern hat sich ein Alltag eingespielt, der für alle stimmt. Einzig, dass Adrian wenig Kontakte zu Menschen in ähnlichen Situationen habe, empfindet seine Mutter als bedauerlich. Es gäbe weder Freizeitaktivitäten noch organisierte Ferien für Erwachsene mit Beeinträchtigungen. «Würde er für eine Institution arbeiten, wäre das anders.» Daher machen sie als Eltern gelegentlich Ausflüge mit ihm, waren etwa gemeinsam an einem Philipp Fankhauser Konzert. «Das machte ihm viel Freude.» Etwas zermürbend sei zudem, dass sie als Eltern sich alle Informationen jeweils selbst zusammensuchen mussten, wie bei Gesetzesänderungen «Doch wir möchten nichts ändern», bekräftigt Anita Binkert. «Adrian arbeitet gern auf dem Hof und möchte auch hier bleiben.»

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