Ich wuchs in Radein auf, einem Bergdorf in Südtirol auf 1500 m ü. M. Zuerst ging ich in die Bergschule. Später fuhr ich jeweils ins Tal herunter mit dem Schulbus. Mein Traumberuf war Landwirtin. Mit Tieren und der Natur arbeiten, draussen sein – das hat mir schon immer gefallen. Ein Onkel von mir war Bauer und ich wuchs inmitten von Bauernhöfen auf, steckte überall meine Nase rein und half mit.

Nach der Schule absolvierte ich die fünfjährige Ausbildung an der Oberschule für Landwirtschaft in Südtirol – eine Schule mit eigenem Praxishof mit Stall, Obst- und Rebbauflächen. Heute profitiere ich sehr davon. In der Schweiz ist die Ausbildung anerkannt als Landwirt/in EFZ – aber eigentlich gibt es hier keine vergleichbare Ausbildung. Übrigens sagen wir im Südtirol immer Bauer oder Bäuerin.

Spannungsfeld Südtirol

Nach der Ausbildung hatte ich verschiedenste Arbeitsstellen, konnte aber nie etwas finden, wo ich mich entfalten konnte. Ich fand keine Stabilität im Leben und war anfällig für Depressionen. Die politischen Spannungen im Südtirol haben sich auch auf mein persönliches Umfeld ausgewirkt. Einmal fühlte ich böse Blicke auf mir, als ich in der traditionellen Südtiroler Tracht auf dem Weg an eine Versammlung in der Hauptstadt war und bei einem Zwischenstopp in einen Laden ging. Das war aber nicht der Hauptgrund, warum es mich in die Schweiz verschlug.

Deutschsprachige Minderheit in Italien

Ende des 1. Weltkriegs wurde der südliche Teil des österreichischen Tirols Italien zugeschlagen. Mit der Machtübernahme der Faschisten 1922 begann eine Phase der Zwangsitalianisierung.  Der Vertrag, der nach dem 2. Weltkrieg der Südtiroler Bevölkerung die Entwicklung von Sprache, Kultur und Wirtschaft sichern sollte, wurde nie umgesetzt. Nachdem 1961 die Spannungen eskalierten, begannen neue Verhandlungen. Die neue Südtirol-Autonomie trat 1972 in Kraft und sichert die Gleichberechtigung sowie den Schutz der Sprachgruppen. Etwa 70 % der Südtiroler sind deutschsprachig.

Bevor ich auswanderte, arbeitete ich in einem Handelsbüro, wo ich eng mit Vertretern aus ganz Italien zusammenarbeitete. Zum Teil ritten sie so lange auf einem Problem herum, das eigentlich gar keines war, bis es tatsächlich zum Problem wurde. Diese hyperaktive, hysterische Art löste bei mir Stress aus. Ich begriff: Das ist nicht mehr meine Kultur, meine Welt. Ich fühlte mich nicht mehr wohl. Gegen die italienische Sprache und die Italiener habe ich nichts, aber dagegen, nicht meinen Werten getreu leben zu dürfen. Manche Südtiroler weigern sich, italienisch zu lernen. Aber ich sage immer, das kann einem nützlich sein.

Mit dem Pferd auf die Alp

Auch privat hatte ich ein paar traumatische Erfahrungen gemacht. Bei einem Autounfall hatte ich 1000 Schutzengel. Mit dem Motorrad ging es mir einmal genauso. Und privat traf ich oft Personen, die mein Mitgefühl brauchten, aber mich am Schluss sehr ausgelaugt stehen gelassen haben. Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich einen jungen Mann traf, der sich vor mir umbringen wollte. Er hatte im Stall das Seil schon über den Balken geschlagen und wollte den Kopf in die Schlinge stecken. Mit Müh und Not konnte ich es verhindern. Es gibt nichts Schlechtes, was auch nicht etwas Gutes hat.

Mit diesem Mann kaufte ich auch ein Pferd, den Haflinger-Hengst Arias. Über dieses Pferd lernte ich, Nein zu sagen. Ich fand dann je länger, je mehr heraus, dass das Leben, das ich führte, einfach falsch war, ich nicht am richtigen Ort war und dass ich einen neuen Weg gehen musste. Da Arias für eine Alp angemeldet war, begann ich auch für mich selbst in der Schweiz und Österreich Alpstellen zu suchen und bewarb mich bei über 20 Alpen. Ich wollte so einfach wie möglich leben. Aufstehen, wenn die Sonne aufgeht. Ins Bett gehen, wenn die Sonne untergeht; mehr braucht es nicht im Leben.

Unter den Alpen war auch die Rinderalp Oberkamor - als ich das Foto dazu sah, wusste ich: Dort muss ich hin, das ist meine Alp. Das war so ein starkes Gefühl, dass ich den anderen Alpen abgesagt habe und nur noch auf die Zusage hoffte. Tatsächlich kriegte ich die Stelle.

«Alles andere kommt, wie es kommen soll, dachte ich mir.»

Doris Zwischenbrugger

Als ich in die Schweiz kam, wollte ich auf der Alp wieder leben lernen: Aufatmen, aufwachen und wieder Freude am Leben haben. Alles andere kommt, wie es kommen soll, dachte ich mir. Auf der Alp hat es mir gut gefallen. Ich hatte Freude und merkte: Das ist genau meine Welt.

Sonntägliche Spaziergänge im Alpstein

Und auf der Alp habe ich meinen jetzigen Ehemann kennengelernt, der Sohn vom Alpmeister. Er ist mir schon bei der Alpauffahrt aufgefallen: Gross, blond, blaue Augen, ein rechtes Mannsbild. Aber ohne Hintergedanken! Am Anfang war es eher unspektakulär: Per Telefon vereinbarten wir, an einem Sonntag wandern zu gehen. Ich wollte ja auch wissen, wo ich da gelandet bin! Wir gingen auf die Ruhesitz. Ein wunderschöner Sonnenuntergang. Es kam dann jeden Sonntag zu einem Ausflug. Schlussendlich waren wir fast auf jeder Alp hier im Alpstein-Gebirge – da lernt man sich automatisch besser kennen.

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Mein erster Eindruck von den Schweizern war, dass sie sehr zurückhaltend sind Fremden gegenüber – nicht so wie die Südtiroler. Im Südtirol ging ich viel alleine in den Ausgang, aber stand nie alleine in einer Ecke. Das wäre wohl in der Schweiz nicht möglich.

In die Heimat, um aufzuatmen

Nach dem Alpsommer hätte ich einen Job auf sicher gehabt in Südtirol. Den liess ich jedoch in letzter Minute sausen und fand stattdessen eine Stelle in der Schweiz, in der Buchhaltung einer Geflügelbrüterei. Und ich war schwanger – ein Wunschkind. Wir waren beide in dem Alter, wo man nicht mehr zehn Jahre wartet, um eine Familie zu gründen. Und plötzlich hat es mir den Boden unter den Füssen weggezogen – ich bekam schrecklich Heimweh. Ich fühlte mich alleine und rutschte wieder in eine Depression. Fast einmal im Monat fuhren wir ins Südtirol, so konnte ich jeweils etwas aufatmen.

«Ich bekam schrecklich Heimweh.»

Doris Zwischenbrugger

Mein Mann hat gesehen, wie sehr ich gelitten habe. Wir beschlossen, im Südtirol nach einem Bauernhof zu suchen, den wir pachten oder übernehmen können. Leider wurden wir nicht fündig. Schlussendlich bekamen wir das Angebot der Schwiegereltern, den Hof meines Mannes zu übernehmen. Irgendwann musste ich mich natürlich auch entscheiden, ob ich das will. Mein Südtiroler Herz war und ist immer heimatverbunden. Es war eine nervenaufreibende Zeit mit Diskussionen rund um die Betriebsübernahme.

Je länger je mehr die Betriebsführung übernommen

Ich bin ehrgeizig und zielstrebig und brauche auch eine Aufgabe. Alleine auf dem Hof leben und die Füsse in die Sonne strecken – das ist nicht meine Welt. Wenn ich die Betriebsleitung übernehme, will ich auch dahinterstehen können. Die Arbeit auf dem Hof teilen wir. Ich mache die ganze Administration und die Arbeiten, die durch den Tag hindurch anfallen und kümmere mich um die beiden Kinder. Mein Mann ist Forstwart und arbeitet auswärts, er hilft am Morgen und am Abend. 

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Beim Administrativen musste ich mich reinknien: Die ganze Bürokratie erst mal verstehen, wo muss man hin, was passiert, wenn man dieses oder jenes macht, was ist, wenn ich etwas nicht weiss? Das war die grosse Herausforderung! Ich fragte jeweils meinen Mann um Rat, aber oft konnte er mir auch nicht weiterhelfen, er hat nicht Landwirt gelernt. Woher sollte er es denn wissen? Ich habe je länger, je mehr die Betriebsführung übernommen, obwohl es sein Hof ist.

Nach der Betriebsübergabe gab es vor allem mit dem Schwiegervater Reibungspunkte. Am Anfang half er noch mit auf dem Hof. Doch er konnte nicht annehmen, dass die Schwiegertochter ihm sagt, was zu tun war. Bei ihm galt wortwörtlich «eine Frau hat nichts mitzureden». Da mussten wir entscheiden: jeden Tag streiten oder es ohne ihn machen. Es war nicht leicht, aber am Schluss muss man halt immer den ehrlichen Weg wählen.

«Ich glaube, als Frau muss man sich noch mehr beweisen.»

Doris Zwischenbrugger

Die grösste Herausforderung als Südtirolerin in der Schweiz war die Sprache. Es gab immer wieder Missverständnisse. Ich hatte das Gefühl, dass ich fachlich nicht ernst genommen wurde, weil ich manchmal die Begriffe nicht wusste. Das hat meiner Meinung nach vor allem auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Meine Ausbildung ist 20 Jahre her, da vergisst man so einiges. Im Gespräch mit anderen Bauern, hier im Stall zum Beispiel, habe ich das gemerkt. Sie haben dann mehr mit meinem Mann gesprochen als mit mir. Ich glaube, als Frau muss man sich noch mehr beweisen. Vom bäuerlichen Umfeld hätte ich mir mehr Offenheit gewünscht. Mittlerweile habe ich den Dialekt sehr gut gelernt. Viele meinen, ich sei Bündnerin.

«Die grösste Herausforderung war die Sprache.»

Doris Zwischenbrugger

Heute habe ich das Gefühl, dass ich allmählich in meinem Leben angekommen bin. Das ist vor allem auch dem Hof zu verdanken, wo ich viel Gestaltungsmöglichkeiten habe. Ich treffe mich auch mit anderen Bäuerinnen – der Austausch tut mir gut. Auch zu wissen, dass andere ähnliche Probleme haben. Mein Wunsch ist es, dass wir mit dem Hof aus dem Sumpf rausfahren können. Dass man auch sieht, dass alles, was wir an Opfer gebracht haben, fruchtet und dass wir den richtigen Weg gewählt haben. Das Gefühl der Ausgrenzung, dass ich in Südtirol hatte, ist hier in der Schweiz grösstenteils weg.

Schicksalsgeschichten: Erzählen Sie uns von Ihrem Leben!
Im Rahmen unserer Schicksalsserie lassen wir Personen mit bäuerlichem Hintergrund über schwierige und emotionale Themen sprechen, die unsere Leserschaft und Personen ausserhalb der Landwirtschaft beschäftigen. Dabei diskutieren wir Themen wie Generationenkonflikte, Fehlgeburten oder Todesfälle in der Familie. Aber wir möchten auch erfreuliche Erlebnisse teilen, so wie aussergewöhnliche Liebesgeschichten, Überraschungen im Stall oder Glücksfälle. Wir haben dieses Gefäss eröffnet, weil wir es wichtig finden, auch tabuisierte Themen anzusprechen und den Dialog darüber zu erleichtern.

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