Die einen essen ihr Birchermüesli zum Zmorge, die anderen zum Znacht. Unter dem Namen «Apfeldiätspeise» oder einfach «d’ Spys» liess es der Arzt Maximilian Bircher-Benner als bekömmliches Abendessen servieren. Zwar gehören Haferflocken dazu, Birchermüesli darf aber nicht mit dem englischen Porridge verwechselt werden: Die Flocken müssen nach Bircher über Nacht in kaltem Wasser einweichen – sie zu kochen, wie es die Engländer tun, wäre für den überzeugten Verfechter der Rohkost nicht in Frage gekommen.
Obst nur als Wein und Schnaps
Mit seinen Ideen schwamm Bircher-Benner Ende des 19. Jahrhunderts deutlich gegen den Strom. Zu dieser Zeit herrschte nämlich die Meinung vor, Früchte und Gemüse hätten zu wenig Nährwerte und wurden gemieden. Menschen mit heiklem Magen hätten aus Angst vor Infektionen ganz auf frisches Obst verzichtet, das fast ausschliesslich in Form von Wein oder Schnaps auf dem Tisch landete. Man sah Fleisch in der bürgerlichen Gesellschaft als wichtigsten Energielieferanten an – von der heute propagierten Lebensmittelpyramide war man also noch weit entfernt.
Die Alphirten machen es vor
An sich selbst und in der Behandlung einer Patientin mit Magenschmerzen hat Maximilian Bircher-Benner beobachtet, wie gut Rohkost tun kann. Für sein Müesli inspiriert haben soll ihn die Ernährung der Bergbevölkerung, die seiner Meinung nach auf wenigen Grundzutaten basierte. Eine Sennin habe ihm auf einer Bergwanderung mit einer Rohkost-Mahlzeit bewirtet, die ihm offenbar mundete.
Das Birchermüesli wird gar als alter Brauch bezeichnet, den Älpler(innen) schon seit Jahrhunderten gepflegt haben. Besonders in obstreichen Gegenden sei der Vierklang aus Früchten, Nüssen und Milch ein häufiges Znacht gewesen.
Das Originalrezept
Pro Person:
- 1 Esslöffel Haferflocken, in 3 Esslöffel Wasser über Nacht einweichen
- 1 Esslöffel gezuckerte Kondensmilch
- Saft einer halben Zitrone
- 2–3 kleine oder 1 grosser Apfel samt Schale und Kerngehäuse
- 1 Esslöffel geriebene Nüsse
Mit Apfel und Kondensmilch
Vom Birchermüesli gibt es heute unzählige Versionen. Das Originalrezept, das Bircher Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitetet hat, umfasst Haferflocken, gezuckerte Kondensmilch, Zitronensaft, geriebene Äpfel samt Schale und Kerngehäuse sowie gemahlene Nüsse. In der Version des «Magazins der Frau» von 1964 (siehe Video) gehört eine halbe Banane pro Person fest dazu. Die Frucht binde das Müesli und sei für den Geschmack wichtig, dürfte aber in früheren Zeiten kaum verfügbar gewesen sein – sicher nicht fürs Urmüesli auf der Alp. Dort könnte es auch mit dem Zitronensaft schwierig gewesen sein.
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Tuberkulosegefahr durch Milchprodukte
Neben ihrem Gesundheitswert erfüllen die Zutaten des Birchermüeslis praktische Kriterien. Kondensmilch war sicherer als Milch oder Rahm hinsichtlich des Tuberkulose-Risikos. Ausserdem scheidet sie nicht in Kontakt mit dem Zitronensaft, der seinerseits ein Braunwerden der Apfelstückchen verhindert. Wie man heute weiss, sind viele Vitamine beim Apfel direkt unter der Schale zu finden und das Kerngehäuse liefert zusätzliche Ballaststoffe für eine bessere Verdauung. Die Kerne enthalten zwar in kleinen Mengen Amygdalin, das im Körper zu giftiger Blausäure umgebaut werden kann. Die Dosis ist beim Apfelgenuss aber sehr klein und ganz verschluckt kommen die Kerne wiederum der Verdauung zugute.
In der Neuzeit angekommen
Das Birchermüesli gilt als das populärste Vermächtnis von Maximilian Bircher-Benner. In seinem Sanatorium «Lebendige Kraft» gehörte es allerdings zu einem Gesamtprogramm, das neben viel Rohkost auch Mittagsschläfchen, Gymnastikstunden, regelmässige Laboruntersuchungen, Wasserkuren in der Badewanne und einen Blick auf den Menschen als Ganzes statt der alleinige Fokus auf eine Krankheit umfasste.
Zu Lebzeiten erhielt Bircher keine Anerkennung von der offiziellen Medizin, an der heutigen Schweizer Ernährungspyramide mit einer Basis aus Obst und Gemüse hätte er aber wohl seine Freude gehabt. Ausserdem hat sein Müesli die Jahrhunderte überdauert und sei es als neumodische «Overnight Oats» für vielbeschäftigte Büroleute.
Quellen:
Kulinarisches Erbe der Schweiz
«House of Switzerland» des Eidgenössischen Departements des Äusseren (EDA)
Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)
Sendung «Magazin der Frau» vom 8. Februar 1964