Die Flüssigkeit im Kupferkessel ist tiefrot, sie schäumt und dampft in der Hitze der brennenden Holzscheite. Martina Schenker rührt schon seit Stunden mit einem langen Holzlöffel im Kessel und sagt immer noch, sie sei nur zum Zuschauen hergekommen. Tatsächlich ist sie Teil einer jahrhundertealten Tradition geworden. Denn was da vor sich hinköchelt, ist Kirschensaft, der in rund 12 Stunden als Chirschmues in Gläser abgefüllt wird.
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In kleinen Schritten bis zum Saft
Natürlich ist Martina Schenker nicht allein. Die Chirschmueset ist Team- und weitestgehend Handarbeit. So sind an diesem Abend in Wimmis BE insgesamt sieben Männer und Frauen aus dem Dorf im Einsatz. Es braucht die Arbeit vieler helfender Hände, bis der Kirschensaft über dem Feuer köchelt: In einem ersten Schritt gilt es, die frisch angelieferten Kirschen zu erlesen. Anschliessend werden die Früchte mit einem Pürierstab Marke Eigenbau an einer Bohrmaschine gemixt. Die Kerne bleiben dabei intakt, denn die aufgeschnittene Scheibe am Pürierstab ist nicht wirklich scharf. Die flüssige Masse schöpfen die Dorfbewohner in dreieckige Tücher aus Käseleinen, um sie sodann an Seilen an der Decke des Schopfs hinter der Mehrzweckhalle aufzuhängen.
Der nächste Schritt ist neben dem langen Rühren sicher der anstrengendste: Mit zwei flachen Stäben wird der Saft aus den Säcken «gestreift». Trester und Kerne bleiben im Stoff zurück.
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Eine gesellige Arbeit
Die Stimmung ist gelöst und heiter, während die Sommersonne langsam blasser wird. Die mit Kirschensaft bespritzen Gesichter sind fröhlich, man arbeitet gelassen und ohne Druck auf ein gemeinsames Ziel hin. Wie Martina Schenker ist auch Marija Kammer zum ersten Mal bei der Mueset dabei. «Ich war lange in der Gastronomie tätig und habe daher am Wochenende gearbeitet, weshalb ich nicht beim Musen mithelfen konnte», erklärt sie. Jetzt ist die Wimmiserin pensioniert und nutzt diese Gelegenheit, am Dorfleben teilzunehmen. Die ganze Runde ist sich einig, wenn es um die Motivation geht: Man will Leute treffen, mit denen man nicht durch seine üblicherweise besuchten Vereine in Kontakt kommen würde. Ausserdem geht es fraglos auch darum, das alte Brauchtum am Leben zu erhalten.[IMG 12]
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Weniger Bäume, Kirschen und Helfer
Dafür hat 40 Jahre lang Werner Lengacher gesorgt. Seit 1982 organisierte er jedes Jahr das Muesen, immer mit Freiwilligen. Der einzige materielle Lohn für die harte Arbeit ist ein Abendessen, geliefert von einer der beiden Dorfbeizen und ein gemeinsames Znacht für alle Helfer im Herbst. Der Erlös aus dem Verkauf des Chirschmues kommt den beteiligten Vereinen zugute. Lengacher hat erlebt, wie sich die Landwirtschaft in und um Wimmis verändert hat. «Es hat weniger Kirschenbäume, entsprechend werden weniger Früchte geliefert», schildert er. Auch Freiwillige zu finden, wurde zunehmend schwieriger.
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Weit mehr als eine natürliche Schleckerei
Das Klima in Wimmis, an der engsten Stelle des Niedersimmentals, sei zwar rau, sehr geeignet für Kirschenbäume. «Ein Gottessegen gedeiht aufs wunderbarste, Kirschbaum», heisst es blumig im Buch «1000 Jahre Wimmis». In diesem Jubiläumsband sind Geschichte und Tradition des Chrischmues beschrieben.
Einst sei das Musen eine Familienangelegenheit gewesen, um die Kirschen für den Winter haltbar zu machen. Nicht nur in Wimmis, dort aber wegen der grossen Mengen an Kirschen im grösseren Stil. Die Früchte dienten als Grundnahrungsmittel und kamen während der Saison als Suppe oder Kompott, in den kalten Monaten dann als Mus etwa zu Kartoffeln auf den Tisch. Nicht selten habe ein Bauer über 50 Kirschenbäume besessen und konnte auf die Hilfe zahlreicher Kinder und von Knechten für die Ernte zählen. Zum Kochen waren genügend Holz und ein Kupferkessel nötig – in Metallgefässen lasse sich die Spezialität nicht brauen, da die Masse scheide.
Ende der 60er Jahre schrumpfte der Kirschenbestand in Wimmis zusammen. Strassen wurden verbreitert, die Landwirtschaft mechanisiert, die Arbeitslöhne stiegen und wurden für die zeitaufwändige Lese zum Problem. Die treibende Kraft hinter der Chrischmueset im grösseren Rahmen und auf Ebene Gemeinde war in dieser Zeit der Alkoholfürsorger. Unter dem Motto «Statt Schnaps Mues» kaufte man den Wimmiser Bauern ihre Kirschen ab, in guten Jahren wurden etliche hundert Kilo des «roten Golds» gekocht und fanden über die Landesgrenzen hinaus Abnehmer.
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Den ganzen Tag fürs Mus gepflückt
[IMG 11]«Ich kenne es nicht anders», meint Thomas Briggen. Der Bauernsohn aus Einingen nimmt sich im Sommer jeweils Ferien, um zuhause bei der Obsternte zu helfen. Schliesslich müssen die Kirschen wetterbedingt innert rund 14 Tagen gelesen werden. Früchte fürs Chirschmues zu liefern, gehört für den jungen Landschaftsgärtner seit seinem 10. Lebensjahr dazu. Den ganzen Tag hat er auf der Leiter gestanden, um nun 112 kg ohne Stiel geerntete Kirschen zu Werner Lengacher und seinem Team bringen zu können. Pro Kilo bekommt er dafür Fr. 3.50. Die Tafelkirschen des Betriebs der Familie Briggen werden direkt vermarktet. Insgesamt 190 Hochstammbäume gehören zum Hof, davon sind deren 50 Kirschbäume.
Früher wurde das Kirschenmus traditionell von den Bauernfamilien zuhause gekocht, damals gab es dank vieler Kinder und Knechte noch genügend Helfer dafür. Neben der Betreuung ihrer 20 Milchkühe wäre eine eigene Mueset für Briggens heute ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür sind sie mittlerweile zu einem der wichtigsten Lieferanten für das von Vereinen organisierte Musen geworden und noch am selben Abend kocht der Saft ihrer Früchte über dem Feuer.
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Kaum mit Konfitüre zu vergleichen
Konfitüre zu kochen, wäre einfacher gewesen. Aber der süsse Brotaufstrich ist auch nicht mit dem Wimmiser Chirschmues vergleichbar: Im Gegensatz zu Konfitüre enthält das Mus nichts als Saft, kein Zucker, kein Geliermittel. In drei Schichten von 18 Uhr abends bis etwa 9 Uhr morgens wird der Saft im Kupferkessel auf einen Fünftel der Menge eingedampft. Angestrebt wird eine harzartige Konsistenz. Ob das Mus fertig ist, überprüft Werner Lengacher mit einem Tannenscheit: Von einem Löffel Chrischmues darauf darf kein Wasser mehr in die Jahrringe fliessen. Nach diesem Wasserentzug überzeugt das Endprodukt mit einem leicht säuerlichen Aroma und einer schon beinahe sagenhaften Haltbarkeit, die sich über ganze Generationen erstrecken soll. «Nur dass man beides aufs Brot streichen kann, ist gleich wie bei Konfitüre», bringt es Thomas Briggen auf den Punkt.
Die Zukunft ist unklar
92 Kilo fertiges Chirschmues ist das Resultat der samstäglichen Arbeit, das am nächsten Morgen mit Löffel und Trichter in Gläser abgefüllt wird. Je nach angelieferter Menge Kirschen läuft die Mueset 5 bis 7 Tage. In früheren Zeiten, in den 80er-Jahren, kochte man noch mehr als eine Tonne Mus pro Jahr. Ob es im nächsten Sommer wieder eine Mueset gibt, steht noch in den Sternen: Werner Legacher wird 80 Jahre alt und «das ist mein letztes Jahr als Organisator», stellt er klar. Eine Nachfolge ist nicht in Sicht und wer weiss, ob es überhaupt genügend Kirschen geben wird. Sollte es keine Mueset von der Gemeinde aus mehr geben, könnte sich Familie Briggen eine für die Kirschen auf ihrem Betrieb vor Ort vorstellen – genügend zuverlässige Helfer vorausgesetzt. Angesichts der motivierten Leute und des lebendigen Brauchtums besteht also Hoffnung, dass das Chirschmues Jahrgang 2022 nicht das letzte sein wird. Ein Kilo der kostbaren Spezialität, der man auch eine heilende Wirkung etwa bei Erkältungssymptomen nachsagt, kostet 27 Franken und kann vor Ort in Wimmis erworben werden.
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