Die Nacht ist sternenklar, der Mond beleuchtet das Bergmassiv um das Schweizertor. Erstmal hat sich Frost auf dem Gartentisch gebildet. Auf der Nachtweide höre ich vereinzelt ein leises Bimmeln. Der Generator surrt. Aus der Sennerei strahlt Licht. Es ist drei Uhr morgens.
Nervös trotz Routine
Geschlafen habe ich so gut wie nicht. Im Viertelstundentakt bin ich aufgeschreckt und habe auf die Uhr geschaut. Gleichzeitig habe ich mich über mein eigenes Verhalten geärgert. Nach 14 Alpsommern hätten wir eigentlich genügend Routine und ich bräuchte nicht mehr nervös zu sein. Ich bin wohl nervöser als unsere Tochter vor ihrem ersten Kindergartentag. Die Vorfreude brennt mir in der Brust, heute ist der grosse Tag. Heute ist Alpabfahrt.
Ich gehe zurück in die Hütte. Die Hitze will mich erschlagen, als ich in die Küche komme. Peter sitzt mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Tisch. Er hat im Herd eingeheizt, nun haben wir wohlige 26 Grad. Die Gerstensuppe köchelt vor sich hin. Unser traditionelles Frühstück am Alpfahrtsmorgen. In der Käserei scheppert es. Ich höre, wie Senn Reto und Zusenn Jonas mithilfe des elektrischen Seilzuges den Käse aus dem Kessi holen. Das letzte Mal für diesen Sommer. Unsere Hirten und Helfer erwachen im oberen Stock. Einer nach dem andern trampelt die Treppe herunter. Ihre Augen sind klein, auch sie haben nicht viel geschlafen. «Herrgott, ist das kalt», höre ich noch, dann fällt die Tür ins Schloss. Kurze Zeit später erklingen die Kuhglocken laut und deutlich. Die Kühe werden eingestallt. Von den anfangs 111 sind es noch 71. Jeder wird ein Halfter angezogen. Spannung liegt in der Luft, das spüren auch die Tiere.
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Alle wissen, was zu tun ist
Nach den Stallarbeiten gibt es Frühstück. Eine halbe Stunde später treffen die Bauern aus dem Dorf ein. Nun geht es schnell. Die Arbeiten gehen Hand in Hand. Wir können uns auf eine zuverlässige Helferschar verlassen. Viele von ihnen stehen uns seit Jahren am bedeutungsvollsten Alptag zur Seite. Sie kennen die Abläufe, wissen was zu tun ist. Es ist schön, dürfen wir Jahr für Jahr auf unsere Freunde zählen. Nicht nur, weil sie uns tatkräftig unterstützen. Auch, weil es im Herzen guttut, diese unbezahlbaren Momente der Alpabfahrt mit ihnen erleben und teilen zu dürfen.
Kaum ist das Stahlseil der Seilwinde über den Platz gespannt, werden schon die ersten Kühe aus dem Stall geführt und angebunden. Immer mehr Helfer kommen hinzu, Reto verteilt die Arbeiten und teilt die Gruppen ein. Irgendwo schwirren unsere beiden Kinder umher. Ich packe Ersatzkleider für später in ein Auto. Treicheln werden den Kühen angelegt. Wir holen den Blumenschmuck aus den Anhängern und verteilen die aufwendigen Gestecke. Die Arbeiten gehen ruhig voran, gleichzeitig pumpt Adrenalin durch meine Adern.
Wo sind die Kinder? Sie müssen sich noch umziehen. In einer halben Stunde wollen wir loslaufen. Jetzt wird den Kühen der Blumenschmuck angezogen. Bauchgurte, Tscheppel, Stirnschmuck, Nasenbänder, bestickte Halftern und Überwurfriemen. Unsere Herde wird ein kleines Vermögen ins Tal tragen. Zum Schluss stossen wir alle zusammen mit einem Appenzeller an und wünschen uns einen erfolgreichen Heimweg: «Gueti Alpabfahrt, gnüssets und chömet gsund dunde a!»
Jetzt gehts los
Unser Jüngster Cyrill fährt die erste Hälfte des Weges in einem Auto voraus, es wäre zu weit für ihn. Unsere Älplertochter Ronya und Göttibueb Elia führen zusammen mit Senn Reto und mir den farbenfrohen Zug an. Jetzt kommt der grosse Moment. Eine gefühlte Ewigkeit habe ich darauf gewartet. Mein Adrenalinspiegel hat seinen Höhepunkt erreicht und explodiert wie ein Vulkan.
Unsere Helfer lösen die ersten acht Kühe. Es sind behornte Original Braune, die schon an so mancher Viehschau oder Alpabfahrt grosse Treicheln und Schmuck getragen haben. Sie wissen, worum es heute geht. Die ersten 80 Meter gebärden sie auf, verwerfen ihre Hinterhand, versuchen, uns wegzustossen und den Schmuck loszuwerden. Dann verfallen sie in einen gemächlichen Schritt und trotten uns hinterher. Es geht hinunter ins Dorf und nach Hause. Kurz fassen Reto und ich uns an den Händen. Ein Moment grenzenloser Glückseligkeit.
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Emotionale Momente
Die Freude lässt mich mit der Sonne um die Wette strahlen. Gleichzeitig kämpfe ich gegen meine Tränen an. Mit jedem Schritt spüre ich, wie das bleierne Gewicht der Verantwortung leichter wird. 90 Tage habe ich es getragen. Strenge und unbeschreiblich schöne 90 Tage.
Mit Stolz beobachte ich unsere Ronya, die zum ersten Mal den ganzen zweistündigen Weg mit uns ins Dorf marschiert. Zusammen mit Elia spannt sie Drähte und sichert die Zufahrten. Lange hält es Cyrill nicht im Auto aus. Schliesslich schultert Reto unseren Älplerbueb bis kurz vor Dorfbeginn.
Dort wartet eine kleine Kinderschar mit Weidschellen auf uns. Sie laufen voraus und verkünden unsere Ankunft. Eine grosse Menschenmenge säumt jetzt den Weg links und rechts von uns. Wie Olympiasieger werden wir empfangen. Als uns die ersten Bekannten zuwinken, ist es um mich fast geschehen. Schier mit roher Gewalt schlucke ich meine Tränen hinunter.
Wir passieren die letzte 180-Grad-Kurve. Reto juchzt unseren Hirten und Helfern zu, sie juchzen zurück. Wir winken einander, ich sehe nur lachende und glückliche Gesichter. Ein Bild, das sich tief in mein Herz eingräbt. Die geschmückten Kühe, dazwischen die Treiber in weissen und blauen Hirtenhemden und unsere Kinder und wir an der Spitze. Alle Gruppen haben zueinander aufgeschlossen und in einem Zug schreiten wir stolz durch Pany.
Man muss es erleben
Noch wenige hundert Meter, dann ist unser Alpsommer vorbei. Ich betrachte unsere Älplerfamilie. Wie intensiv waren doch die letzten Wochen. Wie unbeschreiblich schön. Viele können nicht nachvollziehen, weshalb wir Frühling für Frühling unser modernes Zuhause gegen eine Alphütte eintauschen. Weshalb wir Jahr für Jahr darum kämpfen, noch einen weiteren Alpsommer als Familie erleben zu dürfen. Sie verstehen es nicht. Nein, sie können es nicht verstehen, weil sie nie einen Alpsommer erlebt haben.
Kurz vor der Weide wird es noch einmal eng. Autos haben sehr nahe parkiert und einige Zuschauer stehen mit ihren Hunden direkt vor dem Weideeingang. Doch auch diese Situation meistern wir. Reto und ich schnappen unsere Kinder. Nur weg mit ihnen, die Kühe haben ihre Schritte beschleunigt, sie wollen auf die grüne Wiese. Wir umarmen einander und gratulieren unseren Helfern für ihre Leistung. Gesund und ohne Zwischenfälle sind wir im Dorf angekommen. Der Alpsommer 2025 ist vorbei.