Ein Apéro, ein Abendessen oder eine Party ohne Champagner, Wein oder Bier? Schwer vorstellbar, Alkohol ist das gesellschaftlich am meisten akzeptierte Suchtmittel überhaupt:

  • Fast 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung trinkt chronisch risikoreich, das heisst, zu häufig zu viel.
  • Männer trinken generell risikoreicher als Frauen, die Frauen holen aber tendenziell auf.
  • Geschätzte 250 000 bis 300 000 Personen in der Schweiz sind alkoholabhängig.
  • Zirka jede dritte Person in der Schweiz hat mindestens eine Person mit Alkoholproblemen in ihrem Umfeld. 

Philip Bruggmann, Co-Chefarzt beim Zentrum für Suchtmedizin Arud in Zürich, betreut Menschen, die ihren Alkoholkonsum nicht mehr im Griff haben.

Herr Bruggmann, ein möglicher Ansatz bei einer Alkoholerkrankung, den ich kenne, ist das sogenannte Kontrollierte Trinken.

Philip Bruggmann: Genau. Das ist sicher der herausfordernde Weg. Viele Leute verlieren, wenn sie einmal anfangen, Alkohol zu trinken, unter dessen Einfluss die Kontrolle. Sie nehmen sich vielleicht vor, nur ein, zwei Gläser zu trinken, und nach der Wirkung des zweiten Glases geht dieser Vorsatz verloren. Es kommt immer darauf an, wie wichtig es jemandem ist, Alkohol zu trinken, und ob er oder sie überhaupt zu einer Abstinenz bereit ist. Wenn jemand instabil ist, ein Leben ohne viel Struktur hat oder im Hintergrund der Alkoholerkrankung eine Depression, eine Angststörung oder eine andere psychische Krankheit vorhanden ist, wird es umso schwieriger mit dem Kontrollierten Trinken. [IMG 3]

«Das ist eine chronische Krankheit, für die man sich nicht schämen muss.»

Philip Bruggmann über das Zögern vieler Menschen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Dann gibt es auch verschiedene Medikamente, die man nehmen könnte?

AboSuchtkrankheitWenn der Partner Co-abhängig wird – gemeinsam in der SuchtfalleDonnerstag, 1. September 2022 Bei den Medikamenten ist wichtig zu wissen, dass diese Hilfsmittel und nur ein Baustein der Therapie sind. Bei den einen helfen sie mehr, bei den anderen weniger. Es gibt Medikamente wie Selincro, die einem die Lust auf den Alkohol nehmen. Dann gibt es Campral, das man nehmen kann, wenn man die Abstinenz erreicht hat, das diese unterstützt. Früher wurde auch Antabus viel eingesetzt, das eine unangenehme Reaktion nach Alkoholkonsum auslöst. Damit ist man viel zurückhaltender geworden, weil die Patientin oder der Patient eine hohe Disziplin braucht, sonst kann es gefährlich werden. Antabus kann auch auf die Leber schlagen, wenn man es über lange Zeit einnimmt. 

Wie wichtig ist eine psychotherapeutische Begleitung?

AboAlkoholsucht«Ich liebe ihn – wenn er nüchtern ist»Donnerstag, 1. September 2022 Ohne geht es nicht, das sage ich meinen Patient(innen) immer. Eine psychotherapeutische Begleitung oder eine fachliche Begleitung, in der man die Situation fortwährend analysiert, ist die Basis der Therapie. Ein wichtiges Element der Therapie ist, ein Tagebuch zu führen darüber, wie viel man trinkt, und dass man dann gemeinsam einen Plan macht, wann wie viel getrunken wird und wie man ganz davon wegkommen könnte. Entweder baut man ab oder hört, wenn nicht sehr viel Alkohol im Spiel ist, auf einen Schlag auf. Meist braucht es eine relativ lange Begleitung, denn der Weg ist lang und nicht gradlinig, mit Hochs und Tiefs. Es gibt vielleicht mal einen Rückfall. Dann ist es ganz wichtig, dass man begleitet wird, sonst ist die Gefahr gross, dass man unterwegs irgendwo stolpert und aufgibt. 

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Sie haben es bereits angetönt, oft gibt es bei einer Alkoholerkrankung noch ein anderes psychisches Leiden im Hintergrund.

Ja, aus meiner Erfahrung kommt das sicher mindestens in der Hälfte der Fälle vor. Das kann von einer leichten Depression über ein Burn-out oder Angststörungen bis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gehen.

Ebenfalls bekannt sind Gesprächsgruppen wie z. B. die Anonymen Alkoholiker.

Da kommt es sehr auf den einzelnen Menschen an. Einige können da sehr viel herausholen. Es lohnt sich sicher, das einfach mal auszuprobieren, weil man auch nur einmal gehen kann und sich zu nichts verpflichtet. Solche Gruppen sind oft eine gute Ergänzung zu den professionellen Hilfeleistungen.

Wann braucht es einen stationären Entzug?

Man unterscheidet zwischen dem körperlichen Entzug und der Entwöhnung. Zu Ersterem kommt es, wenn jemand täglich sehr viel trinkt und am Morgen mit Entzugssymptomen erwacht und dann weitertrinkt, damit er überhaupt funktionieren kann. Wenn man in diesem Fall allein zu Hause aufhört, können gefährliche Folgen wie epileptische Anfälle auftreten. Da lohnt es sich, mindestens den Entzug stationär zu machen.

Was empfehlen Sie Angehörigen?

AboBei einer Alkoholsucht gehen nicht nur Gläser, sondern auch Beziehungen oder ganze Leben in die Brüche. AlkoholDie Familie leidet unter einer Suchterkrankung: «Nahestehende vergessen sich selbst»Donnerstag, 1. September 2022 Das Wichtigste ist, dass man nicht wegschaut, das Problem und die damit verbundenen Sorgen anspricht, und zwar in der Ich-Form. Dass man nicht sagt: «Du trinkst zu viel, du machst dich kaputt», sondern etwa: «Ich sehe, du trinkst so viel. Das macht mir Sorgen.» Ich sehe es zum Beispiel auch bei Hausärzt(innen), die eine Familie schon lange kennen, dass es ihnen sehr schwerfällt, diesen Verdacht anzusprechen. Aber Schweigen ist keine Lösung. Eine Alkoholerkrankung ist wahnsinnig belastend für die Partnerschaft und das ganze Umfeld. Darum sage ich den Angehörigen immer, dass sie sich selbst Hilfe holen sollen. Man braucht Unterstützung, um das aushalten zu können, und kann letztlich nur für die andere Person da sein, wenn man selbst stark genug ist. Gerade im bäuerlichen Setting kann es schon sein, dass die Scham sehr gross ist und man sich deshalb keine Hilfe holt. Aber man muss wissen, Alkoholismus ist eine chronische Krankheit wie andere auch. Andere Menschen haben Diabetes oder Bluthochdruck. Das ist nicht etwas, wofür man sich schämen muss.