Gewalt im Alter ist kein Minderheitenthema. Schätzungen zufolge sind in der Schweiz jedes Jahr zwischen 300 000 und 500 000 Personen ab 60 Jahren von einer Form von Gewalt oder von Vernachlässigung betroffen. «Gewalt im Alter ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft», sagt Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt.

Das Parlament forderte daher im Februar vom Bund ein Programm gegen Gewalt gegen alte Menschen. Aktuell steht das Thema «Gewalt bei älteren Paaren» im Fokus einer nationalen Sensibilisierungskampagne, einer Zusammenarbeit einer Hochschule für Gesundheit in Lausanne, dem Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt und dem Senior-Lab, einer interdisziplinären Plattform dreier Westschweizer Hochschulen rund um die Lebensqualität von Senioren.

Bisher kaum untersucht

«Studienresultate verdeutlichen, dass partnerschaftliche Gewalt als eine Form der häuslichen Gewalt kein Alter kennt», erklärt Gabriela Rauber dazu. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Haute École de la Santé La Source in Lausanne und Ansprechpartnerin des Projekts für die Deutschschweiz. «Wenn wir also bedenken, dass die über 64-Jährigen heute fast 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen, haben wir es mit einer grossen Gruppe von Menschen zu tun.» Doch die aktuelle Studie zeigt, dass ältere Menschen deutlich seltener professionelle Hilfe in Anspruch nehmen als andere Bevölkerungsgruppen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Seniorinnen und Senioren bisher kaum im Zentrum von Präventionskampagnen standen. «Ältere Opfer sind deshalb gewissermassen doppelt unterrepräsentiert», so Rauber weiter. Umso wichtiger sei es deshalb, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

Alkohol und Gewalt

Doch unter welchen Lebensumständen sind ältere Menschen besonders betroffen? Laut den aktuellen Studienergebnissen in unterschiedlichen Situationen und in allen sozialen Schichten. Es gibt auch keine eindeutigen Stadt-Land-Unterschiede. «Die Daten zeigen aber, dass eine räumliche Isolation, die in ländlichen Gebieten stärker sein kann, und starke soziale Abhängigkeiten, zum Beispiel in Bezug auf die eigene Mobilität, das Risiko erhöhen», sagt Gabriela Rauber. «Auch Alkoholmissbrauch ist ein häufiger Auslöser für Gewalt-Eskalationen.»

«Die Betreuung und Pflege im häuslichen Bereich ist ein risikobehafteter Bereich», ergänzt Ruth Mettler Ernst. Sie spricht Stichworte an wie Pflegebedürftigkeit, Demenz, Verwahrlosung, Vereinsamung und die fehlende Abgrenzungsmöglichkeit. «Bei der Betreuung und Pflege kann es in der Überforderung ungewollt zu Misshandlungen kommen.» Dabei geschehen die Misshandlungen in rund 70 Prozent der Fälle im häuslichen, privaten Bereich.

Die Ergebnisse der aktuellen Studie zeigen zudem, dass Gewalt bei älteren Paaren im Wesentlichen die gleichen Merkmale aufweist wie bei jüngeren Paaren. Dazu gehören psychische Gewalt wie zwanghafte Kontrolle, körperliche und sexuelle Gewalt. Die Gewalt kann über Jahrzehnte andauern, doch der Übertritt ins Pensionsalter ist eine besonders kritische Phase: Beide sind mehr zu Hause, die Arbeit als «Puffer» fällt weg. Oder der Partner, die Partnerin erkrankt schwer.

Viele schämen sich

Hilfe zu suchen, fällt älteren Menschen oft besonders schwer. «Ein wichtiger Aspekt ist dabei ein traditionelles Rollen- und Familienverständnis, in dem Gewalt ein Tabuthema ist», sagt Gabriela Rauber. «So sagte mir eine Betroffene nach einem Interview: ‹Von uns gibt es viele, aber die meisten würden nie von sich aus darüber reden.› Das Opfer fühlt sich nicht selten für die Situation mitverantwortlich und schämt sich.»

Viele wissen nicht, wo oder wie sie Hilfe suchen können, denn auch heute sind längst nicht alle Seniorinnen und Senioren mit dem Internet vertraut. Viele Hilfsangebote sind nicht ausreichend auf die Bedürfnisse älterer Opfer zugeschnitten. Gabriela Rauber: «Gerade für die ländliche Bevölkerung kann es eine Herausforderung sein, wenn eine Anlaufstelle weit entfernt in der Stadt und nur ‹vor Ort› Beratung anbietet.»

Es kann auch ein grosses Problem sein, überhaupt allein das Haus zu verlassen, wenn der Täter oder die Täterin jeden Schritt des Opfers kontrolliert und es sozial gänzlich isoliert. Erschwerend kommt hinzu, dass mit zunehmendem Alter oft die Angst vor Veränderungen allgemein steigt.

Angst vor Konsequenzen

Viele Opfer haben Angst vor den Konsequenzen einer Hilfesuche. Was, wenn der Täter oder die Täterin davon erfährt und die Gewalt noch mehr eskaliert? Was, wenn einem dann gesagt wird, man müsse sich trennen und das Haus verlassen? Was werden die Leute denken, wenn sie davon erfahren? Gabriela Rauber: «Dabei ist gerade die Befürchtung, dass die Leute über einen reden werden, im ländlichen Umfeld, in dem oft ‹jeder jeden kennt›, deutlich stärker als in der Stadt. Sie erlaubt ein gewisses Mass an Anonymität.»

Gabriela Rauber stellt klar, dass jede Gewaltsituation einzigartig ist. Entsprechend muss auch jeder Fall individuell beurteilt werden. «Es müssen Lösungswege angeboten werden, die den Willen, die Wünsche und das Tempo des Opfers in den Mittelpunkt stellen. Hierbei ist ‹weniger oft mehr›, speziell in der ersten Phase der Suche nach Hilfe.»

Zahlen zu Gewalt im Alter

«Zur Anzahl in der Schweiz von Gewalt betroffener älterer Menschen gibt es keine nationale statistische Auswertung», sagt Ruth Mettler Ernst. «Eine mittelfristige Zielsetzung des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt ist daher, eine nationale Statistik zum Thema erstellen zu können.»

International wurden Misshandlungen an älteren Menschen im Jahr 2002 von der WHO als vorrangiges Problem der Volks­gesundheit anerkannt. Ebenfalls gemäss WHO sind in Europa rund 20 Prozent der über 60-Jährigen und 25 Prozent der pflegebedürftigen älteren Menschen von Gewalt und/oder Misshandlung betroffen. Für die Schweiz berechnet sind dies mehr als 300 000 betroffene ältere Personen.

Im Jahr 2023 wurden dem Schweizer Kompetenzzentrum 359 Fälle von Gewalt gemeldet. In 173 Fällen handelte es sich um psychische Gewalt, in 125 Fällen um körperliche Gewalt. Das Durchschnittsalter der betroffenen Personen lag bei 79 Jahren. Frauen waren mit 67 Prozent häufiger von Gewalt betroffen als Männer (33 Prozent).

«Zwischen der Anzahl der gemeldeten Gewaltfälle im Alter und derjenigen der potenziell von Gewalt/Misshandlung Betroffenen klafft eine grosse Lücke», erklärt Ruth Mettler Ernst. Die Betroffenen hätten oft gesundheitliche Probleme und seien auf die Hilfe ihrer Umgebung angewiesen. «Sie haben Angst, die Kontrolle über ihre Situation zu verlieren, in ein Heim zu müssen oder die Beziehung zu nahestehenden Personen zu gefährden. Und sie gehören einer Generation an, die es gewohnt ist, Probleme in der Familie zu lösen.»

Weitere Informationen

Hilfe finden

- In einem Notfall sollen sich Betroffene direkt an die Polizei, Tel. 117, oder an die Notrufnummer für ­medizinische Notfälle, Tel. 144, wenden.
- Beim Nationalen Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt erhalten sowohl Betroffene wie auch Gewaltausübende, Angehörige und Fachpersonen Gehör, Information und Beratung. Eine Meldung ist auch anonym möglich. Das Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt ist wie folgt zu erreichen: Telefon 0848 00 13 13, Mail info@alterohnegewalt.ch.
- Weitere Hilfsangebote sind kantonale Opferhilfestellen, das Bäuerliche Sorgentelefon, die Dargebotene Hand oder Frauenhäuser.
- In einer nicht lebensbedrohlichen Situation kann auch ein Gespräch mit einer Vertrauensperson ein erster Schritt sein.