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Tierhaltung

Kälber säugen im Graubereich

Wer ein Kalb an seiner Mutter saugen lässt und gleichzeitig Verkehrsmilch produziert verstösst gegen Schweizer Verordnungsrecht. Die Nachfrage nach solcher Milch steigt. Die rechtliche Lage könnte sich bald ändern.
Von Hansjürg Jäger
Publiziert am Samstag, 25. August 2018 09:04
Lesedauer 6 Minuten
Thema  Tierhaltung
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Die Nachfrage nach der Nischen-Milch steigt. (mw)
Die Nachfrage nach der Nischen-Milch steigt. (mw)
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Tierwohl liegt vielen Konsumentinnen und Konsumenten am Herzen. Manchen liegt es so sehr am Herzen, dass sie aktiv Alternativen zur konventionellen Milchproduktion suchen. Claudia Schneider vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau FibL kann das bestätigen: "Wir haben immer wieder Anfragen von Konsumentinnen und Konsumenten, die wissen möchten, wo sie Milch von Betrieben kaufen können, die ihre Kälber bei den Kühen saugen lassen."

Nicht immer kann Schneider weiterhelfen, denn solche Betriebe sind rar. Sie schätzt, dass es nur rund drei, vier Dutzend Milchproduzenten in der Schweiz gibt, die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht praktizieren. "Und es interessieren sich deutlich weniger Bauern für das Thema als Konsumenten."

Das kommt nicht von ungefähr. Zum einen bedeutet dieses Haltungssystem einen Bruch mit der Tradition. In der Landwirtschaft ist es seit Generationen üblich, die Kälber spätestens an ihrem zweiten Lebenstag von den Müttern zu trennen, damit diese gemolken werden können. Die Kälber werden stattdessen zweimal täglich mit Kuhmilch oder Milchaustauscher aus Nuckeleimern oder Tränkeautomaten gefüttert. Sie werden quasi nicht "gestillt", sondern bekommen stattdessen einen "Schoppen". Doch so wie das Stillen bei Menschenkindern heute wieder in ist, wollen viele Konsumentinnen der Kuh das Kalb lassen und trotzdem Milch konsumieren.

Rechtlich im Graubereich

Bauern, die die mutter- und ammengebundene Kälberaufzucht praktizieren, decken folglich eine Nische ab. Dass sie das sehr selten an die grosse Glocke hängen liegt an der Angst vor Sanktionen. Die heutige Gesetzgebung im Lebensmittelbereich sieht nämlich nicht vor, dass das Kalb an der Kuh säuft, wenn gleichzeitig die Milch als Lebensmittel in den Verkehr gebracht wird.

Gemäss Art. 32 der Verordnung über Lebensmittel tierischer Herkunft (VLtH), ist Milch das ganze Gemelk eines oder mehrerer Tiere, welches regelmässig gemolken wird. Der Begriff "ganzes Gemelk" schliesst das Saugen durch das Kalb aus.

Dazu kommt, dass laut Verordnung über die Hygiene bei der Milchproduktion (VHyMP) "nur einwandfreie Milch mit unverändertem Gehalt abgeliefert werden darf." Auch dieser Verordnungstext kann den Bauern zur Last gelegt werden. Denn der Milchfettgehalt verändert sich, wenn das Kalb an der Kuh säugt. Säuft das Kalb am Euter, bevor die Kuh gemolken wird ist der Fettgehalt in der Tankmilch höher, wird das Kalb nach dem Melken gesäugt, ist der Fettgehalt tiefer als sonst.

Rechtlich gesehen wäre das ein Grund zur Beanstandung. In der Praxis bewegen sich Bauern, die ihre Kälber säugen lassen folglich am Rand der Legalität. "Wir haben deshalb schon länger das Gespräch mit der zuständigen Behörde gesucht", sagt Schneider, "und erste Signale erhalten, dass sich in diesem Bereich etwas ändert."

Das bestätigt Nathalie Rochat, Mediensprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Rochat: "Insbesondere der Punkt, dass Milch das ganze Gemelk ist, soll gestrichen werden." Wann das der Fall sein wird, steht allerdings noch in den Sternen. Die öffentliche Vernehmlassung zu dieser und zahlreichen anderen Anpassungen in diversen lebensmittelrechtlichen Verordnungen wird Ende Jahr erst einmal gestartet.

Weitere Änderungen im Bereich Milch sind bei der "Totalrevision des Milchhygienepaketes" vorgesehen. "Dieses Projekt hat zum Ziel die Regelungsdichte abzubauen, Verantwortlichkeiten zu klären und Regelungen kritisch zu hinterfragen." Wann dieses Projekt gestartet wird und was dabei alles dereguliert werden soll, vermochte Rochat allerdings nicht zu sagen.

 

 

Säugen lassen ja, aber wie?

Doch selbst wenn die rechtlichen Hürden wegfallen, ist nicht so schnell mit einer Milch im Handel zu rechnen, die von Kühen stammt, die eine Mutter-Kind-Beziehung pflegen. Vorerst fehlt nämlich ein klarer Standard. Es gibt fast so viele unterschiedliche Varianten für die mutter- und ammengebundenen Kälberaufzucht, wie Betriebe, die dies praktizieren.

Nicht jedes System dürfte dem idealisierten Bild der Konsumenten nach einer heilen Familienwelt im Kuhstall entsprechen. Der grösste gemeinsame Nenner ist, dass die Kälber nicht nach zwei Tagen, wie sonst üblich, sondern erst nach vier bis sechs Monaten abgesetzt werden. Dann müssen auch sie das Euter verlassen.  Man kann im Prinzip drei verschiedene Richtungen unterscheiden, von denen es zahlreiche Varianten gibt. Diese werden von den Tierhaltern je nach Stallsystem und Einrichtung, Charakter der Herde und persönlichen Vorlieben umgesetzt.

  • Restriktives Säugen mit zusätzlichem Melken: Bei diesem System werden die Kühe und Kälber zweimal täglich zusammengelassen. Meistens saugt nur das eigene Kalb bei der Kuh, es können aber auch noch fremde Kälber saugen. Ob das Kalb vor- oder nach dem Melken saugen darf, zu diesem Anlass zur Kuh gebracht oder ein Treffen auf dem Hof arrangiert wird, ist von Betrieb zu Betrieb verschieden.
  • Langzeitiges Säugen mit zusätzlichem Melken: In diesem System haben Kühe und Kälber mehrere Stunden pro Tag oder sogar den ganzen Tag Kontakt zueinander. Die Kühe werden zusätzlich ein oder zweimal pro Tag gemolken. Die Kuh säugt meistens nur das eigene Kalb, manchmal saugen auch noch fremde Kälber an ihr. Die Art und Weise, wie Kuh und Kalb zusammenfinden erfolgt fast genauso betriebs-individuell wie beim ersten System.
  • Langzeitiges Säugen ohne zusätzliches Melken: Dieses System funktioniert mit Ersatzmüttern. Es werden jeweils zwei bis vier Kälber einer Ammenkuh zugewiesen, die neben ihrem eigenen Kalb auch noch diese anderen Kälber säugt. Ob die Ammen nach dem Absäugen der Kälber oder in der nächsten Laktation wieder gemolken werden, entscheiden die Betriebsleiter. Manche Betriebe halten "vollberufliche" Ammen, andere haben Ammenkühe, die in der nächsten Laktation wieder normal gemolken werden.

Idealismus statt Wirtschaftflichkeitsgedanken

Dass das Säugen des Kalbes an der Kuh natürlicher ist als das Tränken mit dem Nuggeleimer ist unbestritten. Was das für die Milchleistung, die Milchqualität, Rentabilität und die Tiergesundheit bedeutet, ist weniger klar.

Es gibt Studien, die zeigen, dass die Milchleistung über alles gesehen, also inklusive dem Kälberverbrauch, nicht sinkt. Es gibt aber auch Beobachtungen von Bauern, die sagen, dass das Kalb über den Durst säuft.

Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die den Kühen eine tendenziell bessere Eutergesundheit attestieren, wenn sie von Kälbern besaugt werden. Andere Studien weisen daraufhin, dass vereinzelt Pasteurellen und Mycoplasma bovis-Mastitiden auftreten, die wahrscheinlich vom Maul der Kälber übertragen werden.

Während praktisch alle Bauern, die ihre Kälber säugen lassen, davon überzeugt sind, dass die Kälber gesünder sind, kommt eine Studie des Thünen-Instituts zum Schluss, dass ein guter Gesundheitszustand auch ohne Mutter-Kind-Beziehung erreicht werden kann.

Viele Betriebsleiter werten den wegfallenden Arbeitsaufwand für die Kälberfütterung als Arbeitsersparnis und folglich als Gewinn. Ob es wirklich einer ist, ist unklar, da konkrete Rentabilitäts-Berechnungen fehlen.

Ob und wie viel teurer Milch aus Mutter- und ammengebunden Kälberaufzucht sein müsste, weiss folglich niemand genau. Die wenigen Betriebe, die in der Schweiz auf diese Systeme setzen machen es ohnehin nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen, sondern aus der Überzeugung, dass diese Form der Kälberaufzucht die natürlichere ist. Und das ist genau das, was viele Konsumentinnen und Konsumenten heute wünschen.

Eveline Dudda/lid

 

 

 

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