Vor kurzer Zeit erhielt Mäster Hans neue Kälber von seinem Händler. Während ein Grossteil der Tiere beim morgendlichen Tränken freudig aufspringt und sich auf die Milchkessel stürzt, bleiben zwei von ihnen liegen. Ihr Atmen ist schwer. Die an einer Lungenentzündung leidenden Kälber werden von Hans mit Antibiotika behandelt – eine Alltagssituation im Kälbermaststall.
Gefahr für Mensch und Tier
Die grösste Menge Antibiotika in der Nutztierhaltung wird laut Bericht des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) in der Rinder- und Kälbermast verabreicht. «Oft müssen in Mastbetrieben Kälber gruppenweise behandelt werden», so Jens Becker, Tierarzt an der Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern. Er sagt: «Werden viele Antibiotika eingesetzt, sammeln sich Bakterien an, die Resistenzen in sich tragen. Dadurch verlieren Antibiotika ihre Wirksamkeit.»
Häufig muss auf sogenannte kritische Antibiotika zurückgegriffen werden. Sie sollten in erster Linie zur Behandlung menschlicher Erkrankungen reserviert werden. «Mit ihnen wird beispielsweise eine Hirnhautentzündung beim Kleinkind behandelt.» Durch den Einsatz der Antibiotika in der Tierhaltung besteht die Gefahr, dass sich die Resistenzen auch auf den Menschen ausdehnen. «Wegen häufiger Krankheiten werden vielfach Antibiotika in der Kälbermast eingesetzt», so der Tierarzt weiter. Doch das muss laut Becker nicht so bleiben: «Die in der Schweiz betriebene bäuerliche Kälbermast sehe ich als grosse Chance zur Verbesserung der Tiergesundheit und somit einer Reduktion des Antibiotikaverbrauchs.» Daher haben die Universität Bern, der Schweizerische Nationalfonds (SNF), IP-Suisse und Coop ein neues Projekt gestartet. Doch zuerst ein Blick zurück.
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80 % weniger Antibiotika
Mit dem Ziel die Tiergesundheit zu verbessern und damit den Antibiotikaverbrauch in der Kälbermast zu senken, wurde 2016 von der Universität Bern in Zusammenarbeit mit IP-Suisse, dem Schweizerischen Nationalfonds SNF, dem Migros-Genossenschaftsbund und dem Bundesamt für Landwirtschaft BLW das Forschungsprojekt «Freiluftkalb» lanciert. Es ist unterdessen abgeschlossen. Die Auswertungen zeigen: Die im Projekt ergriffenen Massnahmen führten zum Erfolg. «Der Antibiotikaverbrauch konnte bei den Freiluftkälbern um 80 % gesenkt werden», so Projektleiter Jens Becker. Und nicht nur das: Die Sterblichkeit halbierte sich. Die Tageszunahmen hingegen blieben gleich. «Das, obwohl die Freiluftkälber anders als die Vergleichstiere restriktiv gefüttert wurden», ergänzt der Tierarzt. Besonders erfolgreich war das Projekt jedoch noch aus einem weiteren Grund: Es konnte deutlich aufgezeigt werden, dass Freiluftkälber viel weniger resistente und multiresistente Bakterien in sich trugen. Doch welche Massnahmen führten zum Erfolg? «Unser Ziel war es, ein Haltungssystem zu errichten, das möglichst alle relevanten Risikofaktoren für eine Erkrankung der Tiere ausschliesst», erklärt Becker. Insgesamt rund 1000 Kälber wurden während des Projekts im Freiluftkalb-System gehalten. Verglichen wurde das System mit rund 1000 nach IP-Suisse-Richtlinien gehaltenen Kälbern. Alle Betriebe waren typische IP-Suisse-Betriebe mit knapp 20 Mastplätzen.
Basierend auf den Risikofaktoren wurde die Freiluftkalb-Mast wie folgt aufgebaut:
- Transport (Punkt 1): Die Masttiere stammen meist von unterschiedlichen Herkunftsbetrieben. Werden die Tiere während des Transports vermischt, können Erreger übertragen werden, die eine Erkrankung auslösen können. Im Projekt wurden die Kälber pro Geburtsbetrieb separat auf direktem und möglichst kurzem Weg auf den Mastbetrieb transportiert.
- Quarantäne (Punkt 2): Der Umzug auf den Mastbetrieb bedeutet für die Tiere Stress. Für eine schrittweise Eingliederung wurden die Kälber in den ersten drei Wochen in Einzeliglus gehalten. «So konnten sie sich zuerst an die neue Umgebung und die Futterumstellung gewöhnen, bevor sie in einem nächsten Schritt mit den aus anderen Betrieben stammenden Kälbern und deren Erregern in Kontakt kamen», erklärt Jens Becker.
- Nasen-Impfung (Punkt 3): Lungenentzündungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen der Kälber. Zur Vorbeugung einer viralen Lungenentzündung wurden die Tiere während der Quarantänezeit mit der Nasen-Impfung gegen die zwei am häufigsten auftretenden viralen Erreger geimpft: ein weiterer Schritt in der stufenweise Eingewöhnung an den neuen Ort.
- Gruppenstall (Punkt 4): Nach dreiwöchiger Eingewöhnung wurden die Tiere gruppenweise in den extra dafür konzipierten «Freiluftstall» umgesiedelt. Dieser bestand aus einem Gruppeniglu und einem überdachten, eingestreuten Auslauf. Eine Gruppe bestand aus maximal zehn ungefähr gleich schweren Tieren. So wurde der Krankheitsdruck in der Gruppe möglichst tief gehalten.
«Nicht die Kälte macht die Tiere krank, sondern die Erreger.»
Jens Becker, Tierarzt an der Vetsuisse-Fakultät Bern.
Frische Luft, gesunde Kälber
Neben der Reduzierung der Antibiotikamenge mussten im Freiluftkalb-System zudem anzahlmässig weniger Kälber überhaupt behandelt werden. «Auf den Kontrollbetrieben wurde jedes zweite Kalb behandelt, bei den Freiluftkalb-Betrieben hingegen nur 15 %», so Jens Becker. Zudem litten die Freiluftkälber deutlich weniger an Husten oder Nasenausfluss und wiesen nach der Schlachtung gesündere Lungen auf. «Die Tiere mussten nicht behandelt werden, weil es ihnen besser ging», betont der Tierarzt. Dies zeigt die umfassende Untersuchung zum Tierwohl. Auch wurden im Rachen der Freiluftkälber weniger resistente Bakterien gefunden. «Wird ein Kalb krank, besteht bei den Freiluftkälbern eine grössere Chance, dass das Antibiotikum auch anschlägt», erklärt der Fachmann.
Vorteile des Freiluftkalbs
Folgende Erkenntnisse konnten aus dem Freiluftkalb-Projekt erzielt werden:
- 80 % weniger Antibiotikaverbrauch
- Weniger mit Antibiotika behandelte Tiere
- 50 % tiefere Mortalität
- Weniger an Husten oder Nasenausfluss leidende Tiere
- Gleiche Tageszunahmen
- Weniger resistente Bakterien im Rachen
Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist für den Tierarzt der überdachte und eingestreute Auslauf. «Kälber verbringen einen Grossteil der Zeit im Liegen. Umso wichtiger ist ein regelmässiger Luftaustausch, um hohe Ammoniakgehalte, die zur Schädigung der Lunge führen, zu verhindern», erklärt er. Ein eingestreuter und überdachter Auslauf fördere den Aufenthalt der Kälber an der frischen Luft. Auch die von vielen Tierhaltern gefürchtete Kälte im Winter sei für die Tiere kein Problem gewesen, im Gegenteil: «Im Sommer mussten mehr Tiere behandelt werden als im Winter», so Becker. Er ergänzt: «Nicht die Kälte macht die Tiere krank, sondern die Erreger.»
Stolperstein RAUS
Doch genau dieser vollständig überdachte und eingestreute Auslauf macht das vom Bund mitfinanzierte Projekt in der Praxis nicht umsetzbar. Denn wer auch die Jüngsten im Stall beim RAUS-Programm anmelden möchte oder gar beim Weidebeitrag mitmacht, muss auch ihnen einen ganzjährigen, ständigen, unüberdachten und nicht eingestreuten Auslauf zur Verfügung stellen. Zur Anpassung der Anforderungen wurde vergangenen Sommer vom Berner Nationalrat Ernst Wandfluh eine entsprechende Motion eingereicht, über die bisher noch nicht abschliessend entschieden wurde. Konkret fordert er, dass Tiere der Kategorie Rinder bis zum Alter von 160 Tagen auch bei einem gedeckten Aussenbereich weiterhin RAUS-berechtigt sind. «Unsere Beobachtungen und Resultate aus dem Projekt zeigen deutlich auf, dass eine Anpassung der RAUS-Anforderungen in der Kälberhaltung Sinn ergibt», bekräftigt Jens Becker die Forderungen des Nationalrats.
Zwar werde der Handlungsbedarf der Antibiotika-Reduktion in der Mastkälberhaltung anerkannt, doch die generelle Aufhebung der heutigen RAUS-Anforderungen bei den Jungtieren erachte er als nicht zielführend, so der Bundesrat in seiner Stellungnahme. Die vollständige Überdachung sei nur ein Teil eines Massnahmenbündels und würde als Einzelmassnahme nicht dasselbe Resultat erzielen.
Gemeinsam geht es weiter
Doch in die Schublade gesteckt wird das Projekt nicht. Damit das System auf den Betrieben einfacher umzusetzen ist, lancierte die Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern gemeinsam mit dem SNF, IP-Suisse und dem Coop-Fonds für Nachhaltigkeit ein Folgeprojekt. Insgesamt fünf Kälbermastbetriebe in der Ost- und Zentralschweiz sowie im Bernbiet nehmen aktuell am einjährigen Projekt teil. Der Unterschied: Statt in den speziell konzipierten Freiluftställen werden die Kälber im bereits bestehenden Maststall gehalten und getränkt. «Der bestehende Auslauf wird eingestreut und überdacht», erklärt Jens Becker. Durch den Handel werden die Tränker nach Betrieb getrennt auf die Betriebe verbracht. Die Quarantänezeit in den Einzeliglus wird von drei Wochen auf zwei gekürzt. Die Nasen-Impfung bleibt bestehen. Ende Mast gehen die Kälber zu Bell und werden von Coop mit einem Mehrpreis abgegolten.
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Ein erster erfreulicher Eindruck des angepassten Konzepts konnte bereits direkt vor Ort gewonnen werden. «Es war an einem kalten, nassen Tag und es lag etwas Schnee, als wir einen der sechs Mastbetriebe besuchten. Als wir beim Stall ankamen, fanden wir alle Kälber draussen im überdachten und eingestreuten Bereich. Eine Kälbergruppe musste sogar vom Stall durch die Nässe in den überdachten Liegebereich. Das war für mich ein deutlicher Hinweis, dass auch die Kälber vom überdachten und eingestreuten Auslauf begeistert sind», sagt Becker überzeugt und ergänzt: «Und im Sommer wird das Dach sicher kühlen Schatten spenden. Darauf freue ich mich.»
Projektbetrieb gesucht
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