Der Lebensmittelkonzern Nestlé ist der weltgrösste Nahrungsmittelhersteller und das bedeutendste Industrieunternehmen der Schweiz – ein Gigant also. Am 10. Juli traf man diesen Giganten im Kuhstall von David Jaccoud. Nestlé lud zum Sommertreffen, einem Medienanlass für Schweizer Journalisten, ein.
Der Betrieb von David Jaccoud im waadtländischen Froideville umfasst 90 ha landwirtschaftliche Nutzfläche. Darauf baut Jaccoud Raps, Gerste, Weizen, Mais sowie eine Klee-Gras-Mischung mit Luzerne an. Diese verfüttert er an seine 100 Milchkühe, die jährlich insgesamt rund 900 t Milch produzieren. Mit seinem Betrieb erzielt David Jaccoud jährlich etwa 800 000 Franken Umsatz und beschäftigt neben sich selbst zwei weitere Mitarbeiter, darunter seinen Vater.
Seine Milch verkauft Jaccoud für durchschnittlich 55 Rappen pro Liter an Nestlé. Das global tätige Unternehmen beschäftigt weltweit rund 277 000 Mitarbeiter, betreibt 340 Fabriken in 75 Ländern und erwirtschaftete im Jahr 2024 einen Umsatz von 91 Milliarden Franken.
Trend statt Zufall
Dass ein Schweizer Weltkonzern seinen Medienanlass nicht etwa im Konferenzraum seiner Zentrale abhält, sondern im Kuhstall eines Bauernhofs, ist kein Zufall. Vielmehr entspricht dies einem aktuellen Trend: Grosskonzerne suchen bewusst die Nähe zur lokalen (Land-)Wirtschaft. Strategisch motiviert ist diese Entwicklung durch den Klimawandel, das veränderte Konsumverhalten der Generation Z sowie politische und wirtschaftliche Unsicherheiten.
Beim Klimawandel setzt sich Nestlé ambitionierte Ziele: Bis 2050 möchte das Unternehmen klimaneutral werden, also unter dem Strich kein CO2 mehr emittieren. Die Landwirtschaft spielt dabei eine Schlüsselrolle, da sie eine der wenigen Branchen ist, in welcher eine CO2-Reduktion oder sogar Speicherung möglich ist. Mit Ausgleichszahlungen an Landwirte, die klimaschonende Massnahmen – wie reduzierte Bodenbearbeitung – umsetzen, reduziert Nestlé den CO2-Ausstoss in seiner eigenen Lieferkette. Ebenfalls entscheidend: Mit dem Klimawandel nehmen Unsicherheiten und Ertragsschwankungen zu. Auf ertragreiche folgen zunehmend schlechte Jahre. Unternehmen, die frühzeitig gute Beziehungen zu ihren Lieferanten aufbauen, sind im Vorteil, wenn das Angebot knapp wird.
«Essen ist ideologisch aufgeladen»
«Ernährung dient schon längst nicht mehr nur der Nahrungsaufnahme, vielmehr ist Essen ideologisch aufgeladen», schreibt Nestlé in einer 2024 veröffentlichten Studie über Essgewohnheiten der deutschen Bevölkerung. Neben einem tieferen Preis wünsche sich die Bevölkerung vor allem «unbeschwerten» Konsum, also sorgenfreies Essen.
Um das zu erreichen, schwanken Konsumenten zwischen gegensätzlichen Strategien. Einerseits praktizieren sie, laut Nestlé, eine «neue Mässigung», bei der Gesundheitsoptimierung und Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen. Andererseits nutzt die Generation Z vermehrt Lieferdienste, konsumiert Convenience-Produkte und Snacks oder verweigert sich der modernen Ernährung und setzt auf einen Retro-Trend mit teilweise demonstrativem Fleischkonsum. Von Lebensmittelunternehmen erwarten die Konsumenten jedoch stets Verantwortung bezüglich Nachhaltigkeit und gesunder Ernährung. Nestlés Werbespruch «Good for you – good for the planet» passt gut zu diesen Erwartungen und zu den Klimazielen sowie der Kooperation mit lokalen Landwirten.
Jahrzehntelang galt die Kombination aus Globalisierung und neoliberaler Marktwirtschaft als gesetzt. Doch Pandemie, Ukrainekrieg und Trumps Rückkehr ins Weisse Haus haben diese Weltordnung ins Wanken gebracht. In einer unsicheren Welt wächst die Bedeutung kurzer Lieferketten und lokaler Produzenten und als Konsequenz daraus verstärken viele Grosskonzerne ihre Zusammenarbeit mit regionalen Anbietern inklusive Landwirten.
Langfristige Sicherheit in unsicheren Zeiten
Dass Nestlé seinen Medienanlass bewusst im Stall eines lokalen Landwirtschaftsbetriebs abhält, ist darum mehr als symbolische Nähe zur Basis. Es zeigt deutlich, wie Grosskonzerne auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Welt reagieren: Eine verstärkte Zusammenarbeit mit lokalen Produzenten, seien es Unternehmen oder Landwirte, bietet Grosskonzernen langfristige Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Für die Schweizer Landwirte entstehen daraus neue Chancen: stabile Absatzmärkte für ihre begrenzten Produktionsmengen, partnerschaftliche Zusammenarbeit und zusätzliche finanzielle Möglichkeiten. Gleichzeitig müssen Landwirte darauf achten, ihre Unabhängigkeit nicht vollständig aufzugeben und stets faire Bedingungen auszuhandeln. Nur dann kann eine Begegnung zwischen einem Grosskonzern wie Nestlé und einem Landwirt wie David Jaccoud sinnbildlich für eine neue Balance zwischen globaler Vernetzung und regionaler Eigenständigkeit und lokal produzierten Lebensmitteln stehen.
