Ende Januar ist Esther Stricker mit Vorbereitungen für die Leitung einer Gruppe «kollegiales Coaching für Bäuerinnen» beschäftigt und erarbeitet die Unterlagen für die Flipchart-Präsentation. «Ich finde es wichtig, dass Bäuerinnen gut vernetzt sind und wir uns gegenseitig stärken und ermutigen.» Dies sind ihre Beweggründe dafür, dass sie mit vier Berufskolleginnen im Kanton St. Gallen das Angebot «kollegiales Coaching», das vom Bäuerinnen- und Bauernverband St. Gallen mitgetragen wird, gründete. «2018 und 2019 leiteten wir bereits einige Gruppen in Flawil.» 

«Die Bäuerin» gibt es nicht 

Das Coaching-Angebot von und für Bäuerinnen stiess nun auch im Thurgau auf Interesse. So leitete Esther Stricker 2020 zwei zusätzliche Gruppen mit je sieben Teilnehmerinnen. Nun gebe es erneut eine Ausschreibung durch den Verband Thurgauer Landwirtschaft für die Durchführungsorte am BBZ Arenenberg und Egnach TG. 

«Aus den Gesprächen in den Gruppen, die auf Verschwiegenheit, Diskretion und gegenseitigem Vertrauen basieren, weiss ich um die Sorgen und Nöte meiner Berufskolleginnen. Themen wie z. B. die bevorstehende Hofübergabe, Mitarbeitende auf dem Betrieb oder das Zusammenleben mit den Schwiegereltern sowie die Arbeitsbelastung beschäftigen stark.» Esther Stricker sagt, sie finde es wertvoll, dass die Betriebe heute vielfältig seien und es nicht «die Bäuerin» gebe, sondern dass jede Frau individuelle Aspekte einbringen würde. In den kollegialen Coachings, die für sie auch eine Herzensangelegenheit seien, habe sie anhand der Rückmeldungen eine gewisse Dankbarkeit herausgespürt: Die Frauen hätten sich in der Gesprächsgruppe im kleinen Rahmen wohlgefühlt und sich gegenseitig ermutigt. 

«Die Gespräche in den Gruppen basieren auf gegenseitigem Vertrauen.»

Sozialkompetenzen von Kolleginnen fördern

Esther Stricker schildert, wie ein kollegiales Coaching abläuft: Sie liefere in der Einstiegsphase den Input. Anschliessend greife eine Teilnehmerin ein Thema auf, und die übrigen Teilnehmerinnen würden dann im Gruppengespräch ihre Ansichten und Beobachtungen dazu äussern. «Die Bäuerin, die das Thema einbrachte, erhält dadurch eine Aussensicht zu ihrer Situation. Dann geht es in die Lösungsphase, die es den Frauen ermöglicht, neue Schritte zu wagen, auszuprobieren und bestärkt in den Alltag auf dem Hof zurückzukehren.» 

Als grossen Pluspunkt bezeichnet die Bäuerin, dass beim kollegialen Coaching Frauen aus verschiedenen Generationen teilnehmen. «In Erinnerung ist mir die Rückmeldung einer jüngeren Frau, die sagte, im Coaching sei ihr bewusst geworden, dass sie auf Verhaltensweisen gegenüber ihrer Schwiegermutter bewusst achten möchte, um diese nicht zu verletzen.» Manche Empfehlung nehme man eher von einer aussenstehenden Person als von einem Familienmitglied an. 

Zeit für die eigene Weiterbildung

Esther Stricker lebt mit ihrem Mann Heini im sanktgallischen Dorf Mörschwil, in dem es nach wie vor zahlreiche Landwirtschaftsbetriebe gibt. Ihr Hof, mit Schwergewicht Milchwirtschaft (40 Kühe), Mostobst und einem Gartenunterhaltsgeschäft mit Angestellten, ist umgeben von Streuobstwiesen. Der Hof trägt den Namen «Paradies». Seit ihre drei Töchter, im Alter zwischen 19 bis 24 Jahren, erwachsen sind, hat sie zeitliche Ressourcen, um ihr Bedürfnis nach Weiterbildung zu stillen. Derzeit ist sie mitten in der Ausbildung in Individualpsychologie nach Alfred Adler. «Ich interessiere mich seit jeher für psychologische Themen und lese gerne entsprechende Fachbücher dazu.» 

Die Bäuerin wuchs in Thal SG mit zwei Geschwistern auf einem Landwirtschaftsbetrieb auf, absolvierte eine kaufmännische Lehre und schloss die Bäuerinnenausbildung mit Berufsprüfung ab. Im Stall und bei der Futterernte arbeitet sie auf dem Hof mit, wenn helfende Hände nötig sind. 

Viele Leute spazieren am Hof vorbei

«Die KV-Ausbildung kommt mir bis heute zugute, für das Gartenbaubüro und die Buchhaltung bin ich zuständig.» Esther Stricker ist in der Bäuerinnenvereinigung Mörschwil aktiv und geniesst den Austausch unter Berufskolleginnen. Danach befragt, was sie am Beruf Bäuerin besonders schätze, sagt sie überzeugt: «Ich liebe die Abwechslung meines Berufs. Bäuerin zu sein erlaubt mir viel Selbstständigkeit und Freiheiten. Das Produzieren von Lebensmitteln ergibt Sinn. Ich könnte nie hinter Produkten stehen, die nur dem Konsum und Lifestyle dienen.» 

In einem Teilpensum arbeitet Esther Stricker in der Gartenabteilung in einer Landi. An Mörsch­wil schätzt sie, dass sie gut vernetzt ist mit anderen Bäuerinnen und sich Kontakte zur Bevölkerung ergeben. Täglich spazieren viele Leute am Hof vorbei, manche wollen einen Blick in den Kuhstall werfen. Daraus ergeben sich immer wieder gute Gespräche mit Konsumenten. In der Freizeit unternimmt die Bäuerin gerne Radtouren oder Spaziergänge, bei denen sie bewusst neue, unbekannte Wege erkunde.