Während meiner Schulzeit gab es keinen Arzt im sanktgallischen Dorf Amden, das auf 950 bis 1300 Metern über Meer liegt. Doktor Bogenmann praktizierte in der Nachbargemeinde Weesen am Walensee, 6 Kilometer und 550 Höhenmeter entfernt.
An gewissen Tagen hielt er Sprechstunde auf dem Berg. Unsere Familie besuchte er daheim. Ich nehme an, weil Mutter «meistens» in Erwartung war (sie gebar zwischen 1943 und 1955 neun Kinder) und sich keine Zeit freischaufeln konnte. Er machte auch Hausbesuche bei abgelegenen Bauernfamilien.
Arzt im Eiltempo
Er fuhr einen Citroën DS, die sogenannte Déesse (die Göttin). Die Männer bewunderten ihn, wie er das Auto um die Ränke trieb. Sie selbst hatten kein Vehikel. Es gab keine Traktoren, nur Einachser. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Arzt je einen Unfall hatte, obwohl er keine Geschwindigkeitsbeschränkung kannte. Fussgängern, Hunden und Hühnern fuhr er geschickt aus dem Weg. Oder diese begaben sich in Deckung, sobald sie dieses spezielle Motorengeräusch hörten.
Heilbuch und Lebenshilfe
Jede Familie besass Pfarrer Künzles «Grosses Kräuterheilbuch» – einen fast eineinhalb Kilo schweren Wälzer. Stundenlang verweilten sich einzelne Familienmitglieder oder alle zusammen mit dem Schunken. Kein Wunder: Das Werk beschrieb nicht nur Kräuter und deren Verwendung, es diente auch als Lebenshilfe. Hundert prächtige, mehrfarbige Pflanzentafeln und anatomische Zeichnungen ergänzten den Ratgeber. Seite um Seite studierten wir die «Bausteine des Körpers» mit den Organen und ihren Funktionen.
Wenn ich die rund 530 Seiten im Schnitt anschaue, bemerke ich Stellen, die öfter geöffnet wurden. «Kinderkrankheiten» müssen die Eltern oft besucht haben, die Spuren im Buchschnitt zeugen davon. Gefragt waren die Erklärungen zu Heilkräutern, die Künzle auf Amdens Alpen fand, wo er von 1890 bis 1893 als Vikar wirkte. Mein Grossvater, der Lindenegg Karl, wie er genannt sein wollte, erinnerte sich an ein paar Katechismus-Stunden bei ihm. Über die Ammler schrieb Pfarrer Johann Künzle: «Dem Stamm und Charakter nach sind sie Glarner, politisch St. Galler; sie sind ehrlich, offenherzig und opferwillig, ein kräftiger Volksschlag.»
Arnikaschnaps als Allerheilmittel
Arnikaschnaps war wohl eine der beliebtesten und verbreitetsten Spezialitäten in Amdens Hausapotheken. Jährlich präparierte Vater den Zaubertrank nach Künzles Rezept. Allerdings siebte er die Blütenköpfchen, nachdem sie acht Tage im Schnaps an der Sonne gestanden hatten, nicht ab. Sie blieben in der Flasche, weil Vater davon ausging, die Wirkung gegen Quetschungen, Verstauchungen und Wundeiterung intensiviere sich. Zudem glaubte er: «Nützts nüt, so schadts nüt! Punkt!» Intensiv war vor allem der Schmerz, wenn Arnika auf offene Wunden aufgetragen wurde, was wir als Kinder oft erfahren mussten. Während ich das schreibe, glaube ich jetzt noch, diesen Schmerz zu spüren. Aber überlebt habe ich ihn!