«Das Buch wird auch heute noch sehr gut verkauft; es figuriert auf unserer internen Bestsellerliste stets auf den vordersten Plätzen», sagt Roland Schärer, Programmleiter Belletristik vom Cosmos Verlag in Muri bei Bern. Er spricht von einem 110 Jahre alten Buch, von einem der beliebtesten Bilderbücher der Schweiz, nämlich von «Joggeli söll ga Birli schüttle» von der Schweizer Autorin Lisa Wenger (siehe Kasten).

Überlanges Querformat

Nach elf Jahrzehnten ist das Buch immer noch in der Originalausgabe erhältlich: im aussergewöhnlichen überlangen Querformat, an das sich alle, die man nach dem Joggeli und dem strengen Meister fragt, sofort erinnern. 

Ruth Aregger, Bäuerin und Grossmutter aus Egerkingen SO, blickt zurück: «Wir hatten dieses Büchlein daheim, ein zerfleddertes Exemplar, das uns wohl jemand geschenkt hatte», sagt sie. Besonders erinnere sie sich an Joggeli – den sie als ein Verdingkind sah – mit dem strammen Schritt und der Leiter auf der Frontseite. Ihr habe die Geschichte nicht gefallen; sie fand sie grausam. Das Schlimmste für sie war, dass der Metzger das Kälbchen stechen sollte. Nur weil es das Wasser nicht «läpple» wollte. Sie habe sich gefragt, warum das Tierchen für so etwas sterben müsse. Auch das Steckli, das schlagen musste, habe sie nicht gemocht. Zu jener Zeit gab es oft genug noch Schläge von Erziehungspersonen. 

«Trotzdem habe ich das Büchlein 1989 in Appenzell gekauft», erzählt sie. Beim Wiederlesen hätten ihr die Reime gefallen und Erinnerungen hervorgerufen. Sie sei unschlüssig, ob sie die Joggeli-Geschichte heute möge oder nicht. «Manchmal zieht uns Widerliches, Lästiges, Hässliches an», resümiert sie. «Obwohl sich in uns etwas dagegen sträubt, schauen wir dauernd hin oder befassen uns damit.»

Alles nur Hampelmänner

Kaspar Flückiger produzierte vor zehn Jahren zum 100-Jahr-Jubiläum der Geschichte einen Animationsfilm mit den Figuren von Lisa Wenger. Unterdessen wurde der Film rund 30 00 mal angeschaut. Im Internet finden sich verschiedene Auslegungen der Geschichte, wobei jene von Kaspar Flückiger am sympathischsten und professionellsten daherkommt. Der Autor ging Joggelis und Wengers Geschichte auf den Grund. Ihn fasziniert, dass Lisa Wengers Figuren Hampelmänner sind, sogar der Meister. Als Schauplatz wählte Flückiger eine Theaterbühne, wo der Meister zuerst aus einem richtigen Vorhang herausschaut. Der Ausgang der Geschichte ist «menschlicher» als bei Wenger. «Vor allem wollte ich, dass der herrische Meister nicht recht behalten sollte», verrät Flückiger, «sondern dass er vom ‹Proletariat› eins aufs Dach kriegt.» Der Film und die Erklärungen dazu sind amüsant und unterhaltsam; Joggeli erscheint heute nicht mehr als Faulenzer, sondern als einer, der das Leben geniesst.

Auch Ruth Aregger meint, nachdem sie den Film geschaut hat: «Der Trickfilm, mit der etwas abgeänderten Version der Geschichte, versöhnt mich nun mit dem herrischen Meister. Am besten gefällt mir der Metzger, der nicht mehr als Schlachter, sondern als Jongleur auftritt», schmunzelt sie. 

Geschichte ist Bandwurm

Erkundigt man sich auf der Strasse nach dem Buch, haben die meisten Leute eine Anekdote dazu: Ein junger Vater erzählt, seine beiden Buben (5 und 7) würden das Buch lieben und es gerne anschauen, wenn sie bei Omi zu Besuch seien. Mit der Schrift habe der Jüngere noch Probleme; der Ältere könne einzelne Buchstaben und Silben lesen. «Meine Jungs finden das Buch lustig, weil es brutal ist», hat er festgestellt. Heute würden Kinder mit Sachen konfrontiert, wogegen Joggelis Geschichte im Streichelzoo stattfinde. 

Eine Grossmutter blickt zurück: «Meine Tochter (39) undmein Sohn (37) kennen das Büchlein, seit ich denken kann.» Ihre drei Grosskinder (4, 6, 8) hätten es «geerbt». Der Älteste könne es mit Unterstützung recht fliessend lesen. Die Geschichte gefalle ihnen, weil sie eine Art Bandwurm ergebe. Alle drei könnten Seite um Seite auswendig aufsagen und müssten dauernd «gigelen», weil immer die gleichen Worte verwendet würden. Sie selbst finde im Gegensatz zu den Kindern die Geschichte brutal. 

Benildis Bentolila

Den Joggeli-Bandwurm zum Hören gesprochen von Tarun (4) aus Zürich.