Wie so oft sitzen zehn Leute zum Mittagessen um Paula Lehmanns grossen runden Küchentisch. Zwei Söhne diskutieren eifrig mit dem Vater und zwei Gästen über Pläne für ein grösseres Bauprojekt. Die jüngste Tochter hat heute frei. Eine junge Mutter füttert ihr neunmonatiges Kleinkind und ihr vierjähriges Mädchen. Mutter Paula bringt Süssmost, Salat aus dem Garten, ein Schafgericht von den Hoftieren hört zu und gibt Rat.


Eine Gemeinschaft


«Es ist etwas Schönes, wenn man miteinander essen kann», sagt die Mutter von sieben erwachsenen Kindern, Grossmutter von zwei Enkeln und selbst Zweitjüngste von zehn Geschwistern. Fünf ihrer Kinder wohnen noch zu Hause. Die Bäuerin versucht, am Tisch eine Atmosphäre der Dankbarkeit und der Wertschätzung einander gegenüber zu pflegen. «Wir gehen einander etwas an. Wir sind eine Gemeinschaft.»  


Schon immer haben andere Leute Platz an diesem Tisch gefunden. Hier sind die Tanten und Onkel sowie die Geschwister von Ehemann Res aufgewachsen.  Paula Lehmann ist es wichtig, dass sie immer willkommen sind. Leicht behinderte oder angeschlagene Menschen werden auf dem Hof angestellt oder wohnen einige Zeit mit den Lehmanns, um sich zu erholen und zu gesunden.


Begleitung auf Zeit


Vor 30 Jahren kam die Krankenschwester Paula Mai aus dem hügeligen Emmental ins flache Thurgau. Sie lernte den Jungbauer Res Lehmann kennen und ist seither Bäuerin auf dem Betrieb im Neuhaus. Vor zwei Jahren wurde sie 50 Jahre alt, und die jüngste Tochter zog für ein Jahr ins Welschland. Die Zeit für eine neue, erfüllende Aufgabe war gekommen. Anstatt zurück in ihren erlernten Beruf hole sie lieber die Menschen auf den Hof, habe sie gedacht und sich für Betreuungsarbeit beworben.


Der jungen Mutter am Tisch hilft sie, selbstständig zu Haushalten. Ein junger Mann soll eine Gerichtsstrafe durch Arbeit auf dem Hof abverdienen. Paula Lehmann hofft, ihm das Leben und Arbeiten auf dem Hof schmackhaft machen zu können. «Wir begleiten die Menschen ein Stück auf ihrem Weg und geben ihnen eine Chance. Doch Verantwortung für ihr Leben können wir nicht übernehmen», hält sie fest.


Grosser Gemüsegarten


Die Familie hat für die Bäuerin Priorität, diese entscheidet gemeinsam über jeden neuen Mitbewohner. Die Menschen sind meist bei ihnen am Mittagstisch. Manchmal raune ihre Familie schon ein wenig, es sei immer ein «Gestürm» am Tisch. Ihren Kindern tue es jedoch grundsätzlich gut, schwächere Menschen kennenzulernen, meint Paula Lehmann. Und ihr Mann Res könne oft eine Situation anders werten als sie, so dass sie sich gut ergänzen.


Die Arbeit mit sozial benachteiligten Menschen sieht Paula Lehmann als ein kleiner Beitrag an die Not der Menschheit, die ihr oft zu schaffen macht. Das Mitleben auf dem Hof mit klaren Tagesstrukturen, gesundem Essen und stabilen Beziehungen wirkt für diese Menschen heilsam. Im grossen Gemüsegarten, sorgfältig überwacht von Sohn Robin, der bei einem Biobauer arbeitet, wachsen gesunde Nahrungsmittel. Der Biobetetrieb mit seinen 140 Milchschafen und 19 Milchkühen, 35 Lämmer, dem Esel, Hühner und Katzen bietet viel Lebens- und Arbeitsraum.


Vorbild sein


Das Organisieren des grossen Haushaltes kam für Paula Lehmann nicht von ungefähr. Sie sei eher langsam gewesen, erzählt sie, aber mit der wachsenden Familie habe sie es lernen müssen.  Auch heute komme sie manchmal an ihre Grenzen, wenn vieles gleichzeitig läuft.


Auftanken kann sie jeweils auf einem Spaziergang oder auf dem Velo beim Musizieren. Sie spielt gerne Klavier und singt in einem Gospelchor. Auch ihr Blumengarten bringt ihr viel Freude.  Der Dienstagabend ist jeweils «Eheabend». Dann nimmt sich das Paar bewusst Zeit für den Austausch zu zweit, ohne gross etwas zu unternehmen. Dafür seien sie oft zu müde.


Als Bäuerin kann Paula Lehmann ihr Leben und ihre Zeit relativ frei gestalten. Die Familie sei Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, erzählt sie. Durch die Zusammenarbeit auf dem Hof können den Kindern spontan und natürlich wichtige Werte vermittelt werden. Und Paula und Res können sich gegenseitig unterstützen. «Mein Leben als Mutter und Bäuerin soll auch die nächste Generation motivieren und deutlich erkennbar machen, dass es ein Privileg ist, Bäuerin zu sein.»

Marianne Stamm