40 Jahre lang war Ueli Tobler Pfarrer in Müntschemier BE mitten im Seeland, dem grössten Gemüsegarten der Schweiz. Zu seinem Pfarramt gehörten auch die Gemeinden Treiten und Brüttelen. Seit kurzem ist Tobler pensioniert. In den 40 Jahren hat der Gründer des bäuerlichen Sorgentelefons die Kühe aus dem Dorf verschwinden und stattdessen Salate und alle erdenklichen Gemüsesorten auf den Feldern wachsen sehen.


An der Kreuzung, wo er wohnt, gab es früher zwei Metzgereien und Milchviehbetriebe. Auch eine Milchsammelstelle existierte im Dorf. «Dann haben sich die Landwirte immer mehr auf den Gemüsebau konzentriert. Dieser hat sich selber weiter konzentriert», sagt er. «Dieser Wandel war auch mit Schmerzen verbunden. Manchem tat es weh, wenn es auf dem Betrieb nicht weiterging.»


Ähnliche Modelle im Ausland


Der Pfarrer hat die Sorgen und Nöte der Bauernfamilien ganz unmittelbar mitbekommen. 1996 entstand deshalb das bäuerliche Sorgentelefon nach dem Vorbild ähnlicher Modelle aus Österreich und Deutschland. Das Departement des Inneren machte im UNO-Jahr der Armut ein Preisausschreiben.


Daniela Clemenz, damals bei der Vorgängerorganisation der Agridea tätig, und Ueli Tobler dachten sich: «Wenn wir einen Preis gewinnen würden, hätten wir ein Startkapital für das 
Projekt.» So holten sie die Schweizerische reformierte Arbeitsgemeinschaft Kirche und Landwirtschaft (Srakla), den Bäuerinnen- und Landfrauenverband sowie die Schweiz. Kath. Bauernvereinigung an Bord, erstellten in Rekordzeit ein Konzept und gewannen tatsächlich einen Anerkennungspreis. Am 1. Januar 1997 nahm das bäuerliche Sorgentelefon seinen Betrieb auf. Bis 2010 war Tobler dessen Präsident.


Völlige Anonymität


Ueli Tobler wurde im Verlauf der Jahre immer wieder gefragt, warum es denn explizit auch noch ein bäuerliches Sorgentelefon brauche und weshalb die «Dargebotene Hand» nicht reiche. Ein Grund dafür sei «die enge Verflechtung von Familie und Arbeit in der Landwirtschaft». Darum sind die Mitarbeitenden am Sorgentelefon Bäuerinnen oder Bauern oder Personen, die eng mit der Landwirtschaft verbunden sind, und für diesen Dienst speziell geschult werden.

Der Wandel in der Landwirtschaft habe sich auch in den Anrufen gespiegelt, erzählt Tobler. «Ein Dauerbrenner waren familiäre Probleme.» Obwohl mehr Frauen angerufen haben, nahmen auch überraschend viele Männer das bäuerliche Sorgentelefon in Anspruch. «Für Männer braucht es mehr, bis sie zum Telefon greifen. Ihnen hilft sicher die völlige Anonymität», so Tobler.  Und auch das Aufkommen des Handys könnte ihnen geholfen haben. «Heute kann ein Landwirt aus dem Stall oder vom Traktor aus jederzeit anrufen.» Seit seinem Rücktritt verfolgt Ueli Tobler immer noch, wie sich «sein Kind» weiterentwickelt. Dass es im vergangenen Jahr den ersten «Prix Agrisano» gewinnen konnte, habe ihn sehr gefreut.


«Die Landwirtschaft beschäftigt und berührt mich immer noch», sagt Ueli Tobler, der einst als Gasthörer die Ausbildung zum Meisterlandwirten mit
machte. «Ich lernte sogar, Kühe zu beurteilen, das hat mir sehr viel Spass gemacht.» Nur 
bei technischen Fächern wie Maschinenkunde passte er. Die Diskussionen mit den angehenden Meisterlandwirten, rund 20 Jahre jünger als er, gaben ihm viel.


Nicht alles alleine tragen


Die gegenwärtigen Rahmenbedingungen für die Bauernfamilien geben Ueli Tobler zu denken. «Heute ist man als Landwirt sehr abhängig vom Abnehmer oder von den politischen Entscheiden.» Auch mit den Marktbedingungen habe er Mühe. Trotzdem würde er jungen Berufsleuten jederzeit raten, in die Landwirtschaft einzusteigen. «Aus ökonomischen Gründen müsste man sowieso immer denjenigen Beruf ergreifen, von dem einem abgeraten wird. Dann gibt es nämlich weniger Berufsleute und man ist umso gefragter», meint er mit einem Schmunzeln und denkt auch an seinen eigenen Beruf.


Wichtig scheint Tobler, dass man nicht versucht, einen Betrieb nur alleine oder als Paar 
zu stemmen. Er outet sich als von Fan von Betriebsgemeinschaften und findet es schade, dass deren Zahl wieder abnimmt. Er habe den Bauern immer 
gesagt, sie müssten mit ihrem BG-Partner nicht in die Ferien fahren, man müsse sich einfach ergänzen und sich menschlich einigermassen verstehen. «Schliesslich ist es eher eine sachliche Beziehung.»


Kirche bleibt wichtig


Ueli Tobler denkt nicht, dass der Glaube für die Landwirte früher wichtiger war als heute. «Die Bauernfamilien machen Jahr um Jahr ihre Erfahrungen mit ihrer Natur- und Wetterabhängigkeit, mit ihren eigenen Grenzen und Möglichkeiten.» Überhaupt sei das komplett religionslose Leben der Gesellschaft fast nur im westlichen und mittleren Europa ein Thema. In der restlichen Welt spielten Kirche und Religion eine grosse Rolle.


«Die Gesellschaft ist heute in einem Ausmass ökonomisiert, das nicht mehr gesund ist», sagt der langjährige Pfarrer kritisch. Alles müsse gerechnet werden und rentieren. Ueli Tobler ist überzeugt, dass sich dieser Trend wenden wird. «Das wird der Landwirtschaft auf jeden Fall zugute kommen.»


Im eigenen Rebberg tätig


Nach seiner Pensionierung und einer längeren Schiffsreise mit seiner Frau widmet sich Ueli Tobler nun einem Theaterstück, das er geschrieben hat. Aktuell laufen die Proben, nächsten Frühling wird es in Müntschemier aufgeführt. Auch sonst wird er, der jahrelang bloggte, das Schreiben nicht aufgeben. Bei drei seiner Predigtreihen will er prüfen, ob und wie sich diese publizieren lassen. Und: «Seit fünfzehn Jahren schreibe ich Gedichte», verrät Tobler.


In gewissem Sinne ist er sogar selber Bauer. Mit Freunden hat er seit einigen Jahren einen Rebberg zwischen Ins und Müntschemier.

Jeanne Woodtli