Es war Ende der Siebzigerjahre im heutigen, noch mehrheitlich katholischen Polen. Eine kleine und zerstreute evangelische Gemeinde wünschte sich einen Ort, an dem sie Gottesdienst feiern konnte. Der Betsaal war den Alten noch lange gut genug, aber die Jungen drängten vorwärts.

Einer von ihnen, ein selbstständiger Bauer, stellte eine schöne Wiese an einem See als Bauplatz für die zukünftige Kirche zur Verfügung. Woher aber sollte man nun eine Baugenehmigung erhalten? Wer wagte den Hindernislauf durch die weitverzweigten Gänge einer zentralistisch ausgerichteten Kommunisten-Bürokratie? Damit wäre die Geschichte

bereits erzählt. Wäre... wenn nicht findige Köpfe beschlossen hätten, dass diese Geschichte so nicht zu Ende sein durfte.


In aller Stille schufen Männer und Frauen aus Steinen und Mörtel ein schönes und solides Fundament in der grossen Wiese am See. «Wir lassen nun Gras darüber wachsen», sagten die Männer und Frauen nach getaner Arbeit. Sie hatten nämlich Vertrauen..., in die Schläfrigkeit der Behörden und in Gottes Güte. Das Gras wuchs und wuchs still vor sich hin. Keiner sprach mehr vom Bau der Kirche. Der Winter kam, eine dicke, weisse Schneedecke legte sich über das Land. Die Bauern sassen jetzt öfters in ihren warmen Stuben beieinander. Eigenartig: Sie hatten verschmitzte und fröhliche Gesichter. Allerlei Unverständliches wurde aufgezeichnet, Berechnungen angestellt.


Und wieder zog der Frühling ins Land. Er fragte nicht, wer da katholisch oder evangelisch, kommunistisch oder parteilos sei. Er liess die Wiesen erblühen und erfüllte die Herzen mit neuer Hoffnung. Auf die Bauern wartete viel Arbeit. Wer im Dorf nahe am See nachts nicht schlafen konnte, vernahm dort ein emsiges Treiben, Hämmern, Sägen und Hobeln. Anscheinend schliefen sie aber gut, die Hüter der Ordnung. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen. Das Gras wuchs und wuchs, es deckte Fundament und Grundmauern zu, bis es die Frauen und Kinder an einem neblig grauen Tag im Spätherbst beseitigten. Dann kamen die Männer mit ihren vorgefertigten Hölzern und errichteten ihre Kirche. Auch der Pfarrer legte wacker Hand an.


Am ersten Adventssonntag sang man zum ersten Mal «Grosser Gott, wir loben dich». Fantasie, Vertrauen und Tatkraft hatten die Bürokratie endgültig besiegt. Niemand hatte die Arbeit behindert. Am Sonntag nach Weihnachten musste ein Aushilfspfarrer, von weit her angereist, den erkrankten Ortspfarrer vertreten. Als er zeitig zur neuen Kirche kam, begrüsste ihn der Sigrist: «Herr Pfarrer, wir sind achtundvierzig Seelen in unserer Gemeinde, sechs sind krank, zwei entschuldigt, alle andern sind anwesend und freuen sich auf den Gottesdienst in unserer Kirche. Sie können beginnen.»


Wie sollen wir mit dieser Geschichte umgehen? Soll ich sie mit unserem Kirche-Sein vergleichen? Nein. Ich will mich vorerst einmal an dieser Geschichte freuen. Dann versuche ich, ihre Aussage zu verstehen. Einer ist (an Weihnachten) bei den Menschen eingekehrt, hat ihre Herzen und Hände berührt. Er, der Einzige und Ewige lebt nicht auf einem unerreichbar fernen Schloss, sondern mitten unter uns. In Polen, damals, und heute. Bei uns. Und die Kirche hat nur diesen einen Auftrag: Das Leben mit den Menschen so zu teilen, dass sie hineingeraten in dieses Geheimnis, welches ihr Leben schon immer ist, nämlich Gottes Geschichte mit uns.


Stephan Bieri, 
freischaffender, reformierter Pfarrer, 
Biembach i. E.