Man geht davon aus, dass in der Schweiz 250 000 Alkoholabhängige leben. Diese Zahl ist nur die «halbe Wahrheit», denn Studien zeigen auf, dass beinahe eine Million – also rund jede achte in der Schweiz lebende Person – unter dem Alkoholkonsum einer ihr nahestehenden Person leidet. Die Krux ist, dass wenn die genannten 250 000 Alkohol- abhängigen gefragt würden, ob sie sich als Alkoholiker bezeichnen, weit über die Hälfte mit «Nein» antworten würden. Sehr viele Alkoholsüchtige sind der Meinung, dass ihr Trinkverhalten völlig normal ist und es «alle anderen» auch so machen. Zudem gehöre Alkoholkonsum doch einfach dazu.

Schleichende Entwicklung

Über Alkoholabhängigkeit sprechen Betroffene meist nicht. Und auch ihre Angehörigen meiden dieses Thema in den meisten Fällen. Das ist verständlich, schämt sich doch die Ehefrau für ihren trinkenden Mann oder der Ehemann für seine trinkende Frau. Wenn die Kinder merken, dass der Vater oder die Mutter trinkt, ist das für sie sehr schwierig. Auch sie schämen sich für ihren trinkenden Elternteil, denn sie erleben, dass Mutter oder Vater ihr Verhalten nicht mehr kontrollieren können.

Sicher ist, dass in Familien, in denen ein Elternteil trinkt, alle leiden. Fachleute sprechen von einer Co-Abhängigkeit der Partnerin oder des Partners. Meist dauert es sehr lange, bis sich Bäuerin oder Bauer eingestehen, dass der Partner alkoholabhängig ist. Um sich zu schützen, macht man sich lange etwas vor. So nach dem Motto: Andere haben ja auch Probleme und vielleicht trinken alle Männer so viel usw. Irgendwann kommt aber der Punkt, wo man sich eingestehen muss, dass es um Alkoholsucht geht.

Reden ist angesagt

Wenn Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner das erste Mal mit der Aussage konfrontieren, dass Ihnen der Alkoholkonsum des Partners Sorgen macht, werden Sie vielleicht ausgelacht. «Mach doch kein Drama, mein Alkoholkonsum ist völlig im Rahmen, nur du siehst das so. Alle meine Kollegen trinken nicht weniger.» Lassen Sie sich nicht besänftigen, beschönigen Sie nichts! Und vor allem: Verkriechen Sie sich nicht. Der nichttrinkende Partner oder die nichttrinkende Partnerin ist nie schuld am missbräuchlichen Alkoholkonsum des Ehepartners. Jede Persönlichkeit ist für das eigene Leben selber verantwortlich. Wichtig ist, dies dem Gegenüber klar zu machen – unmissverständlich und immer wieder.

Wer mit einer alkoholabhängigen Person verheiratet ist oder zusammenlebt, hat es nicht einfach. Denn oft dreht sich alles nur um den alkoholkranken Partner, sich selbst vergisst man. Das darf nicht sein! Die nicht alkoholabhängige Person ist mindestens so wichtig, denn diese erlebt immer wieder Enttäuschungen. Zig-mal wird zu hören sein, «es kommt nicht mehr vor, ich werde mich nicht mehr betrinken, jetzt habe ich es im Griff.» Die Realität wird mit allergrösster Wahrscheinlichkeit anders sein. Wer die trinkende Person deckt, erweist ihr keinen Dienst. Ganz im Gegenteil. So wird die Sucht weiterhin vertuscht und es kann keine Änderung herbeigeführt werden.

Kindern Sicherheit bieten

Auch Kinder sind vom Alkoholmissbrauch eines Elternteils betroffen. Irgendwann kommt der Moment, in dem sie realisieren, was abgeht und dass das nicht im üblichen Rahmen ist. Kinder müssen unbedingt in ihrem Wesen gestärkt werden und mit dem nicht abhängigen Elternteil über ihre Sorgen sprechen können – und zwar offen. Es darf nicht sein, dass Kinder angewiesen werden, niemandem zu sagen, dass der Papa «manchmal betrunken» ist. Nur wenn die alkoholabhängige Person merkt, dass es so nicht weitergehen kann, wird eine Änderung möglich sein. Eine gute Anlaufstelle für Alkoholsüchtige ist der Hausarzt. Wer sich aber schämt, dem Hausarzt seine Probleme einzugestehen, kann beispielsweise eine Fachstelle aufsuchen oder sich den anonymen Alkoholikern (AA) anschliessen.

In dieser Gruppe befinden sich Personen, die dasselbe durchmach(t)en. Die Betreuung ist vorbildlich. Es ist möglich, vom Alkoholmissbrauch wegzukommen. Aber zuerst muss die betroffene Person selber erkennen, dass sie alkoholabhängig ist. Sicher ist, dass der oder die betroffene Person das Problem nicht allein angehen kann. Hilfe zu holen zeugt von Stärke und ist der beste Weg – aber es muss externe Hilfe sein. Die Ehefrau oder der Ehemann ist die falsche Person.

«Trocken» bleiben ist Pflicht

Wer alkoholabhängig ist, kann nicht einfach weniger trinken. Denn Alkoholiker(-in) bleibt man ein Leben lang. «Trockene» Alkoholiker haben es geschafft, vom Alkohol wegzukommen. Sie werden aber auch künftig nur «trocken» bleiben, wenn die Null-Toleranz gilt. Sobald der Körper wieder Alkohol bekommt, meldet sich die Sucht erneut.

Ein feines Glas Wein oder ein Bier nach Feierabend zu geniessen, ist für gesunde Personen kein Problem. Es ist die Menge, die entscheidend ist. Fachleute gehen davon aus, dass für eine Frau der Konsum eines Standardglases Alkohol pro Tag kein Problem ist, ein Mann darf gar zwei Standardgläser trinken. Was mehr ist, ist aber zu viel. Es lohnt sich, Alkohol nur als Genussmittel zu konsumieren. In der richtigen Menge genossen, ist Alkohol aber nichts Schlechtes. Für Jugendliche ist der Umgang mit Alkohol nicht einfach. Auch hier gilt: Darüber reden, fragen, nicht verurteilen – aber konsequent sein.

Agnes Schneider Wermelinger