Ich hatte mich sehr gefreut, als mein Sohn Niklaus uns mitteilte, er werde am nächsten Wochenende seine neue Freundin nach Hause bringen. Bisher hatten wir seine «Frauen» nie zu Gesicht bekommen, diesmal schien es ihm offenbar ernst zu sein. «Wie heisst denn deine Freundin?», fragte ich. «Hilke», sagte er, «sie kommt ursprünglich aus Deutschland und hat dort Agronomie studiert.»


«Aha» – ich liess mir nichts anmerken. Aber ein bisschen enttäuscht war ich schon. Eine Einheimische wäre mir lieber gewesen. Unser Hof im Emmental inmitten einer grünen, mit Wäldern überzogenen Hügellandschaft war ein bisschen abgelegen. Fremde brauchten länger, um von den Nachbarn akzeptiert zu werden. «Aber», so sagte ich mir, «lassen wir es mal werden. Hauptsache, es kommt neues Leben auf den Hof.»


Als Hilke zum ersten Mal in unserer Stube sass, war es, wie es eben in solchen Momenten meistens ist: ein bisschen gespannt, betont freundlich, niemand wollte ein falsches Wort sagen. Das Gespräch bewegte sich um Unverfängliches und Allgemeines, aber andeutungsweise erfuhr man doch dies und das über Herkunft und Familie.

Hilke stammte von einem landwirtschaftlichen Grossbetrieb in Niedersachsen, hatte dann in Osnabrück Agrar-und Lebensmittelwirtschaft studiert und war schliesslich als Dozentin bei der HAFL in Zollikofen gelandet. Dort hatten sich die beiden bei einer Weiterbildung, die Nik besuchte, kennengelernt.


Hilke war mir anfänglich durchaus sympathisch. Sie schien anpackend und zielstrebig zu sein, und ich hatte das Gefühl, dass mit ihr neue Energie ins Haus kam. Als Hilke dann nur ein halbes Jahr später bei uns einzog, Nik und sie hatten kurz entschlossen nur mit Freunden auf dem Zivilstandsamt geheiratet, waren meine Gefühle zwiespältig. Dass wir Eltern nicht zur Hochzeit eingeladen worden waren, hatte mich verletzt. Ich war skeptisch, was unser nahes Zusammenleben auf dem Hof anging. Und meine Skepsis wurde dann auch bald bestätigt.


Hilke hatte ganz andere Vorstellungen von der Rolle einer Bäuerin. Am Haushalt und am Garten war sie wenig interessiert. Sie wollte auf dem Betrieb mitarbeiten und mitbestimmen, schliesslich war sie ja eine Fachfrau. Nik stellte vieles auf ihr Anraten im Betrieb um, und nichts schien mehr gut zu sein, was doch vorher funktioniert hatte. Aber vor allem: Sie pochte darauf, mit Nik ihr eigenes Familienleben zu haben. Es musste ein separater Eingang zur Wohnung im ersten Stock her und neuerdings musste man anklopfen, wenn man die Wohnung des Sohnes betrat.


Ich spürte, wie in mir der Groll zu wachsen begann. Was meint die eigentlich? Kommt hierher, als wäre das schon immer alles ihr Eigentum gewesen und tut so, als könnte sie alles bestimmen. Unsereiner war ja nichts mehr wert, und sogar den eigenen Sohn hatte sie mir entfremdet. Dicke Luft breitete sich aus. Wenn sie mich etwas fragte, reagierte ich schnippisch, sie wüsste es ja wohl selber besser – und ich fing an, ihr aus dem Weg zu gehen. Mein Herz verhärtete sich.


Da kam eines Nachmittags Nik zu mir und fragte, ob ich nicht gemerkt hätte, dass Hilke schwanger sei, sie würde wohl um Weihnachten ein Baby bekommen? Ich war wie vom Blitz getroffen. Ich hatte tatsächlich nichts bemerkt. In meiner Mutterbrust wirbelten die Gefühle wild durcheinander. Gefühle der Freude mischten sich mit Gefühlen der Abneigung und des Widerwillens: Sollte sie ihr Baby haben, ich würde ihr bestimmt nicht helfen! Sie wusste ja sonst auch alles besser, sollte sie nun selber schauen!

In der folgenden Nacht konnte ich schlecht schlafen, und in den Wochen bis zum Advent waren meine Stimmungen fahrig und unausgeglichen. Widerwillen und Ablehnung kämpften mit Vorfreude und Erwartung. Schliesslich kam der Tag der Geburt.

Nik rief uns an und lud uns ein, ins Spital zu kommen. Ich wusste nicht recht, ob unsere Präsenz tatsächlich allseits erwünscht war. Aber wir fuhren hin. Wir betraten das Zimmer der Wöchnerin neben deren Bett das Kinderbettchen stand.


Und da war es mit mir geschehen. Ich schaute auf das kleine Persönchen, das friedlich schlafend im Bettchen lag. Winzige Fingerchen umklammerten einen Saum der Bettdecke. Der kleine Mund war zu einem imaginären «O» geschürzt und feine helle Härchen beflaumten das Haupt. Als sich die klaren braunen Augen öffneten und mich staunend betrachteten, ging mir das Herz auf.

Ein Schwall von Zärtlichkeit durchflutete mich, ich berührte sanft die Stirn des Buben und fragte dann: «Wie heisst er?»

Hilke schaute mich mit einem müden, aber dankbaren Blick an und sagte: «Manuel». «Schön, ...  Manuel, ...   Hilke, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.»


Lukas Schwyn