«Ich war es, der meinen Vater gefunden hat …», sagt Kurt Spycher mit zittriger Stimme und verschränkten Armen. Auch nach über 30 Jahren hallt der Schock nach. Er war 29, als sich sein Vater das Leben nahm. «Weil mein Vater psychisch krank war, war ich bereits vor seinem Suizid gezwungen, den Betrieb in Worb zu führen. Meine Mutter unterstütze mich bei der Kinderbetreuung, Haus- und Buchhaltung», erklärt Spycher.

«Tot. Vom Strom erschlagen»

Der Landwirt raffte sich auf, baute den Betrieb aus, lernte in Davos seine Freundin kennen, die er später auch heiratete. Wenig später und im Verlauf der Jahre wurden sie Eltern von drei Söhnen. Das Glück schien seinen Weg zur Familie Spycher zurückgefunden zu haben.

Doch der Schein trog: «Es war an einem warmen Dienstag im Juli 2001. Ich war im Wald holzen, um endlich Material für unsere geplante Neuwohnung vorzubereiten. Um halb sechs kehrte ich von der Arbeit zurück und fand meine Frau. Tot – vom Strom erschlagen, neben dem Kirschbaum». Die Aluleiter, die sie zum Kirschenablesen benutzt hatte und die mit der 16'000-Watt-Leitung in Berührung gekommen sein muss, lag neben ihr am Boden. Fast nicht sichtbar im hohen Gras.

«Mir halfen die Sorgentelefone nicht»

DossierDossierSchicksalsgeschichtenDienstag, 5. April 2022 «Danach ging es steil bergab», sagt Kurt Spycher, immer noch mit verschränkten Armen. Schon vor dem Tod der Frau sei er nicht zufrieden mit der Situation gewesen. «Ich wollte Sachen ändern, besuchte über Jahre hinweg eine Psychiaterin, fragte bei Beratern um Rat an, nutzte das bäuerliche Sorgentelefon – mir persönlich hat das nicht geholfen», sagt der Landwirt jetzt mit einer deutlich angeregteren Stimme.

Schliesslich musste er sich nach dem Tod seiner Frau die Sprüche aus dem Dorf anhören, ein schlechter Landwirt zu sein und seine Tiere zu vernachlässigen. «Das hat schon an einem genagt», erzählt er nachdenklich. Dabei ging es seinen Kühen gut, betont er. «Eine eigene Küche hatten wir zwar nicht, aber meine Frau hatte so Freude am Melken, dass ich wenigstens einen schönen Melkstand bauen konnte». In der Freude, dass seine Frau nicht nur in einem guten Melkstand arbeiten, sondern auch in einer schönen eigenen Wohnung hätte leben können, führte Kurt Spycher den Bau der gemeinsam geplanten Wohnung nach dem Tod seiner Frau fort.

Nach der Tagesklinik alle Arbeiten nachholen

Aus dem Gespräch mit Kurt Spycher geht hervor, dass die Seelsorger und Psychiater, die er besucht hatte, seine Anliegen als Landwirt nicht vollumfänglich verstanden haben. Deshalb konnte Spycher wenig mit diesen Diensten anfangen. «Eine Zeit lang besuchte ich eine Tagesklinik, weil mir das verschrieben worden war. Wir gingen an die Emme, bräteln, hatten einen schönen Nachmittag, aber am Abend musste ich ja wieder in den Stall, all diejenigen Arbeiten nachholen, die ich durch den Tag hätte machen müssen – das geht für einen Landwirt einfach nicht auf», sagt er kopfschüttelnd.

Personen aus dem Umfeld grüssen nur noch mit einem Finger

In der Geschichte von Kurt Spycher scheint sich alles gegen ihn zu drehen, so auch seine Söhne und andere Personen aus dem Umfeld, die ihn gemäss seinen Erzählungen entweder bei Arbeiten im Stich liessen, ihn nicht bei Feiern dabeihaben wollten, ihn nicht mehr grüssten, oder wenn sie ihn grüssten, dann nur noch mit einem Finger. «Wir hatten nur noch Streit», resümiert der 60-jährige Berner. Ein Streitpunkt war, wie in vielen Familienkonflikten, das Geld. «Ich habe für rund 2,5 Mio Franken gebaut und drei Wohnungen renoviert – davon wollten alle ihr Stück bekommen».

Mit nassen Augen aus dem Fenster schauen und schweigen

AboGenerationenkonflikte«Unausgesprochene Erwartungen. Das ist die Falle in jeder Beziehungsform»Freitag, 27. Mai 2022 Einen anderen Streitpunkt stellten offenbar die Wohnsituation und die Hofübergabe dar. Wie auch seine Mutter scheint der Landwirt Mühe zu haben, die Verantwortung des Betriebes offiziell an seinen Sohn zu übergeben. «Solange er es nicht beweisen kann, dass er der Aufgabe gewachsen ist, ist der Betrieb in meinem Besitz, und der Sohn bleibt Pächter.» Die Uneinigkeiten und Streitereien innerhalb der Familie gingen so weit, dass sich die einzelnen Parteien schliesslich Anwälte zuzogen. «Nach der Aussprache mit den Anwälten haben wir uns einigermassen einigen können – aber auch nur, weil ich auf Anweisung meines Anwalts bei den Verhandlungen geschwiegen habe und mit nassen Augen aus dem Fenster sah», erzählt Kurt Spycher nachdenklich.

Im Inserat stand «Hallo Sie …»

AgrarPodcastEin Lexikon für Schweizer Nutztiere und ein vom Schicksal gebeutelter Landwirt – das ist Episode 20Freitag, 27. Mai 2022 Inmitten des juristischen Wirrwarrs reagierte eines Tages eine Frau auf sein Inserat, welches er in einer Zeitschrift aufgegeben hatte. «Hallo Sie», schrieb die unbekannte Frau. Kurt Spycher war irritiert und gleichzeitig neugierig. Er antwortete im selben Stil. Über Nachrichten bauten die zwei eine Vertrautheit auf, welche sie schliesslich zu einem Paar zusammenführte. «Ich bin nicht heilig, ich glaube an niemanden, aber ich denke, da oben sitzt einer, der mir dieses Glück geschenkt hat», gibt der Worber zu und strahlt das erste Mal in diesem Gespräch ein bisschen unter seinem Hut hervor. «Wir zwei sind im selben Fahrwasser, aber gleichzeitig ergänzen wir uns.» Seine Lebenspartnerin spreche sieben Sprachen und plane Reisen in Brasilien, wo sie herkomme. «Ihr Projekt möchten wir dort weiter ausbauen und eine Aloe-Vera-Plantage errichten – darum versuche ich, einen Daueraufenthalt zu beantragen», sagt er, gedanklich in die Zukunft gerichtet und mit aufgestellterer Stimme.

Bis es so weit ist, verrichtet er Arbeit für Private im Stundenlohn und wohnt weiterhin auf dem Betrieb in Worb, wo er aber anscheinend nicht mehr erwünscht ist. Im Gespräch betont der reflektiert wirkende Landwirt immer wieder, wie anfällig die Landwirtschaft auf Generationenkonflikte ist – gerade weil das Private so eng mit dem Beruf verwoben ist und berufliche Entscheide das private Leben direkt beeinflussen.

Das Törli an der Wand

Es habe Zeiten gegeben, wo er den Sinn des Lebens nicht mehr gesehen habe. «Werum läbeni eigentlech no?»

Kurt Spycher hat sich trotz den Schicksalsschlägen in seinem Leben immer wieder bewusst für das Leben entschieden. «Ich sage mir immer: Solange man an der Wand, an der man steht, ein kleines Törli sieht, geht es weiter. Wenn du das Törli nicht mehr siehst – dann wird’s schwierig. Bis jetzt habe ich das Törli gefunden. Das ist eben das Glück. daran halte ich mich nun fest.»

Schicksalsgeschichten: Erzählen Sie uns von Ihrem Leben!
[IMG 2]Im Rahmen unserer Schicksalsserie lassen wir Personen mit bäuerlichem Hintergrund über schwierige und emotionale Themen sprechen, die unsere Leserschaft und Personen ausserhalb der Landwirtschaft beschäftigen. Dabei diskutieren wir Themen wie Generationenkonflikte, Fehlgeburten oder Todesfälle in der Familie. Aber wir möchten auch erfreuliche Erlebnisse teilen, so wie aussergewöhnliche Liebesgeschichten, Überraschungen im Stall oder Glücksfälle. Wir haben dieses Gefäss eröffnet, weil wir es wichtig finden, auch tabuisierte Themen anzusprechen und den Dialog darüber zu erleichtern.

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