Thema der Woche
In der Woche vom 11. August publiziert die BauernZeitung Informationen und Geschichten rund um das Thema Pflege von Angehörigen.

Er war gerade mal 14. Doch tagtäglich wurde von ihm erwartet, dass er sich um den dementen Grossvater kümmerte. Am Morgen, über Mittag, am Abend, während der Schulzeit genauso wie später während der Lehre. «Ich begleitete ihn auf die Toilette, wusch ihn, wenn es dafür mal wieder zu spät war, brachte ihn nach oben ins Bett», erinnert sich ein heute 59-jähriger Bauernsohn.

Seine Mutter konnte die Aufgabe nicht übernehmen, da sie nach einer Operation geschwächt war. Der Vater fühlte sich nicht zuständig, sein Aufgabengebiet waren schliesslich der Stall und das Feld. «Eine externe Hilfe war nie ein Thema. Gefragt oder gar entschädigt hat mich auch niemand. Man machte es einfach», fasst der Zentralschweizer zusammen. Er betreute den Grossvater, bis er mit 20 Jahren auszog. «So waren damals die festgefahrenen Strukturen.»

Das war in den 1980er-Jahren. Und heute? «Häufig wird nach wie vor stillschweigend erwartet, dass pflegebedürftige Angehörige für Gottes Lohn daheim betreut werden, in der Landwirtschaft wie in der übrigen Gesellschaft», sagt Gabi Schürch-Wyss. Sie ist beim Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands (SBLV) Vizepräsidentin sowie Präsidentin des Fachbereichs Familien- und Sozialpolitik und selbst Bäuerin. Auch sie betreut einen Angehörigen, der auf dem Hof im Stöckli in einer eigenen Wohnung lebt. «Mein Onkel nimmt bei uns das Abendessen ein und am Wochenende zum Teil auch das Mittagessen, ich besorge ihm auch die Wäsche», erzählt sie. «Für diese Dienstleistungen werde ich entschädigt. Wenn er zusätzliche Unterstützung braucht, kann ich das zusätzlich verrechnen.»

Keine moralische Pflicht, sondern wichtiger Wirtschaftsfaktor

Care-Arbeit Bezahlte Angehörigenpflege: «Das Risiko einer Überforderung steigt» Montag, 11. August 2025 Das ist längst nicht überall so. Die sogenannte Care-Arbeit wird zu oft als selbstverständlich angesehen, als «moralische Pflicht», als unproduktiv und damit von geringem Wert. Doch sie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Laut Bundesamt für Statistik sind im Jahr 2020 in der Schweiz 9,8 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet worden. Das entspricht einem Geldwert von 434 Milliarden Franken.

«Care-Arbeit sollte grundsätzlich vergütet werden», sagt Anne Challandes, Präsidentin des SBLV. «Denn sie ersetzt Dienstleistungen, für die man sonst extern bezahlen müsste.» Sie dürfe vor allem dann nicht als selbstverständliche Gratis-Dienstleistung betrachtet werden, wenn sie in der Familie ungleichmässig verteilt ist und/oder der Aufwand hoch ist. «Dann sollte man offen über die Aufgaben, die Verteilung, die Organisation und die Entschädigung sprechen.» Denn wer täglich in die Betreuung eines Angehörigen eingebunden ist, hat weniger Zeit für andere Aufgaben oder die Erwerbsarbeit.

Der Mut, Nein zu sagen

Oft ist es die Schwiegertochter, die sich auf dem Hof um die Eltern ihres Mannes kümmert. «Hier sollte auch der Beitrag der Geschwister diskutiert werden, um Gleichberechtigung zu gewährleisten», stellt Anne Challandes klar. «Niemand sollte sich unter Druck in eine Betreuungssituation drängen lassen», ergänzt Gabi Schürch-Wyss. «Man soll den Mut haben, Nein zu sagen, und sich klar äussern, wozu man bereit ist: ob ausschliesslich Betreuung oder auch Pflege.»

Abo Anita Binker mit ihrem Sohn Adrian Reusser, der stolz sein Spezial-Liegevelo vorführt, das ihm ein Stück Selbstständigkeit gibt. Care-Arbeit Trotz Beeinträchtigung: Adrian Reusser packt täglich auf dem Hof an Dienstag, 12. August 2025 Denn so ehrenwert es auch ist, die Betreuung von Angehörigen zu übernehmen, es birgt diverse Risiken. Dazu gehören Überlastung, Überforderung, Mangel an Entlöhnung und an sozialer Absicherung. Daher ist es wichtig, die eigenen Ansprüche und die der Familie zu hinterfragen und sich bei Bedarf Hilfe und Unterstützung zu holen.

Auch Doris Brönnimann kennt das Thema sowohl aus ihrer Praxis als psychosoziale Beraterin. «Es fängt oft schleichend an», sagt die Alt-Bäuerin. Die Schwiegermutter bittet vermehrt: «Kannst du mir mal helfen …». Der Schwiegervater braucht Begleitung bei Arzt- oder Zahnarztterminen. Und plötzlich realisiert man, dass die Betreuungsaufgaben ein fester Bestandteil des Alltags geworden sind, obwohl man das vielleicht nie wollte. «Übernimmt man Aufgaben, die man nicht machen möchte, ist man nicht authentisch, und das hilft längerfristig niemandem, im Gegenteil.»

Sie erzählt ein Beispiel, bei dem die Generationen eine für alle stimmige Lösung fanden: Die Eltern übergaben den Hof den Jungen und zogen weg. Der Grossvater blieb auf dem Hof und wurde fortan von den Jungen betreut – nicht gratis, sondern gegen Entschädigung. «So haben alle etwas davon.» Denn auch wenn die Betreuung von Angehörigen für viele eine Herzensangelegenheit ist, sie braucht Anerkennung, familiär, gesellschaftlich und nicht zuletzt finanziell.