Es bimmelt idyllisch. Die Sonne scheint durch die alten Bäume auf die Wiese mit den weidenden Schafen. Es sind Engadinerschafe. Gut 150 Tiere sollen hier bis Mitte Dezember das Gras der rund 15 ha grossen Fläche abweiden. Zwischendurch ruft ein Junges nach seiner Mutter. Der Bus fährt vorbei. Er fährt von der Elfenau Richtung Hauptbahnhof Bern. Er stört die Idylle ein wenig. Denn was hier nach Bündner Alp aussieht, ist am Rande der Stadt Bern.

So lange wie möglich

Maël Matile aus dem emmentalischen Kaltacker und sein Kollege Kurt Hodel, Ufhusen LU, haben Ende Oktober mit einem doppelstöckigen Transportanhänger ihre beiden Schafherden in die Hauptstadt gebracht. Aber wie kommen die Schafe aus dem tiefen Emmental und dem Luzerner Hinterland überhaupt nach Bern? «Durch Beziehungen», erklärt Matile. Er kennt den Landwirt, der in der Elfenau den Betrieb der Stadt Bern bewirtschaftet. Matile hatte im letzten Sommer Interesse bekundet, dort seine Schafe weiden zu lassen. Sie sollen noch weiterziehen, wie er gegenüber der BauernZeitung erklärt. «Je nach Witterung, ist der Plan, sie möglichst lange draussen zu halten, so sind wir auch offen für weitere Anfragen ab Mitte Dezember», erklärt Matile.

Eine bedrohte Rasse etabliert sich

Die Böcklein dienen der Lammfleischproduktion. Bei den weiblichen Tieren bestehe eine relativ grosse Nachfrage nach Zuchttieren. Engadinerschafe gehören den vom Aussterben bedrohten Schweizer Rassen an. Die Organisation Pro Specie Rara, mit Sitz in Basel, hat sich der robusten und äusserst fruchtbaren Rasse angenommen. Mit Erfolg: Die Herdebuchzahlen konnten innert 25 Jahren von 722 auf 3322 gesteigert werden.

Zur Rasse kam der gelernte Geflügelzüchter, der in Kaltacker mit seiner Frau Sabine den Betrieb Gutisberg bewirtschaftet, wie die Jungfrau zum Kind. «Ich habe im Alter von 15 Jahren eine Weide übernommen, da standen drei Schafe drauf, die ich übernehmen musste», erinnert er sich. Seit jenem Moment hält er Engadinerschafe, also rund sein halbes Leben lang.

Ein gutes Jahr hinter sich

Aus einem Hobby ist ein Betriebszweig geworden. Die junge Familie Matile, zu der schon bald drei Kinder gehören, betreibt zudem seit 2015 den Hofladen Guets vom Gutisberg. Das Hauptstandbein ist aber die Geflügelzucht. Einerseits die zwei Hallen, mit je 3000 Legehennen. Andererseits werden auf dem ehemaligen Milchwirtschaftsbetrieb auch Junghennen aufgezogen um diese an kleinere und mittlere Betriebe vermarktet. «Wir hatten ein gutes Jahr», erklärt Maël Matile. Gerade im Frühling, während des Lockdows, waren Junghennen gefragt und schon bald einmal Mangelware.

Gespräche über den Wolf

Die Schafe sind demnach nur ein kleines Standbein auf dem Hof in Kaltacker. «Mir gefällt es, eine alte Rasse bekannt zu machen», begründet Maël Matile sein Engagement. Seit kurzer Zeit ist er auch im Vorstand des Zuchtvereins. Und hier will er ab kommendem Jahr gar das Präsidium übernehmen. Es sei wichtig, sich zu engagieren. «Wir müssen den Kontakt zur Bevölkerung aktiv suchen», ist er sich sicher. «In Bern kann ich mit den Leuten am Zaun der Schafweide stehend auch über den Wolf reden. Bislang wurden wir von Rissen verschont. Aber man weiss es einfach nie. Schafe sind gerne draussen, da gehören sie auch hin», weiss er, und: «Wir können nicht erwarten, dass die in der Stadt einfach wissen, wie unser Leben auf den Höfen funktioniert. Wir müssen ihnen davon erzählen.»   

Weitere Informationen: www.gutisberg.ch

 

Wissenwertes zum Engadinerschaf

Bereits im späten Mittelalter brachten italienische Schäfer Schafe, die dem heutigen Bergamaskerschaf glichen, in die Ostalpen der Schweiz. Diese vermischten sich dort mit lokalen, den urtümlichen Steinschafen ähnlichen Tieren zu einem Schlag, der den heutigen Engadinerschafen sehr nahekam und wohl als Ursprung dieser Rasse angesehen werden kann. Schon früh wurden die Schafe im Engadin als grosse, mischwollige Tiere mit Ramsnasen und Hängeohren beschrieben, die sich auffallend geschickt und trittsicher im Berggelände bewegten. Diese während Jahrhunderten in der Region verwurzelten Schafe wurden jedoch trotz ihrer Vorzüge im Zuge der Rassenbereinigung ab 1938 immer mehr vom Weissen Alpenschaf verdrängt. Ihre Bestände nahmen bedenklich ab und erholten sich erst dank des Engagements von ProSpecieRara gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder. Die Gründung des Schweizerischen Engadinerschaf-Zuchtvereins 1992 gab der Rasse zusätzlichen Aufwind.

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Engadinerschafe sind bedroht. Ihr Bestand ist aber stetig zunehmend. (Bild sb)

Unkompliziert in Haltung und Charakter

Die unbehornten Engadinerschafe sind leicht zu erkennen: Sie tragen die typischen Hängeohren, eine ausgeprägte Ramsnase und sind vergleichsweise gross. Heute ist der fuchsbraune Farbschlag am häufigsten, aber auch schwarze Tiere trifft man hie und da an. Ihre Klauen sind äusserst widerstandsfähig, Krankheiten wie Moderhinke und Klauenfäule sind für die Züchtern praktisch ein Fremdwort. Die Fruchtbarkeit der Engadinerschafe ist legendär, eine Aue kann pro Jahr problemlos bis zu drei Lämmer zur Welt bringen. Dies wird nicht nur durch häufige Mehrlingsgeburten begünstigt, sondern auch durch die Asaisonalität der Tiere und dadurch, dass die Zeitspanne zwischen zwei Geburten mit nur sieben bis acht Monaten sehr kurz ist. Die Tiere werden von ihren Haltern als zutraulich und pflegeleicht beschrieben, mit einem aufmerksamen und freundlichen Wesen.

Sowohl Hobby- als auch Profischaf

Das Engadinerschaf zeigt unter extensiven Bedingungen eine respektable Milchleistung, was sich in der problemlosen Aufzucht von Mehrlingsgeburten widerspiegelt. Die Eignung als Milchschaf geriet in Vergessenheit, so dass heute kaum mehr Engadinerschafe gemolken werden und das Hauptmerkmal auf der Gewinnung von Lammfleisch liegt. Dieses ist vergleichsweise fettarm und feinfaserig, was es zu einer beliebten Delikatesse macht. Die Betreuung der Engadinerschafe ist dank ihres gesunden Naturells nicht sonderlich aufwändig und sowohl für Hobbyhalter(innen) wie auch für professionelle Schafhalter(innen) lohnenswert. Ihre Robustheit und Genügsamkeit macht die Engadinerschafe zudem zu verlässlichen Partnern für die Beweidung von extensivem oder schwer zugänglichem Gelände in der Landschaftspflege.

Quelle: Pro Specie Rara 

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