Die Schweiz ist etwas Besonderes. Das ist nicht nur die Meinung vieler Schweizer, sondern der Tenor der unzähligen Instagram-Posts, die bisweilen den Weg in die nationale Medienlandschaft finden. Influencer aus der ganzen Welt bereisen das Land und trauen ihren Augen kaum: Sei es, weil sie einen Bauern beim Mähen im Steilhang beobachten, oder einfach nur, weil ihnen auf dem Wanderweg eine völlig frei herumlaufende Kuh begegnet. Was früher in weiten Teilen der Alpen gang und gäbe war, ist selten geworden: In Italien und Frankreich hat sich das Gebirge längst entvölkert – dass es in Südtirol noch anders aussieht, ist eher dem Starrsinn der Einheimischen geschuldet als der Agrarpolitik Roms.
Hinter dem Erhalt der alpinen Landwirtschaft in der Schweiz steht ein klarer politischer Wille. Keine Marketingstrategie der Welt könnte die für die flächendeckende Bewirtschaftung der Alpen nötigen Ressourcen einbringen. Wo der Markt regiert, sieht es in den Bergen ganz anders aus als bei uns.
Es braucht eine Argumentationsgrundlage, die Stadt und Land vereint
Dieser politische Wille zum Erhalt der gewachsenen Bergbauernbetriebe ist nicht einfach so gegeben. Das Eigeninteresse der Betroffenen wird dazu trotz schlagkräftiger politischer Vertretung immer weniger ausreichen – ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird stetig kleiner, ihre wirtschaftliche Bedeutung ist weit geringer als jene der Pharmaindustrie oder der Finanzbranche. Es braucht eine Argumentationsgrundlage, die über regionalpolitische Überlegungen hinausgeht und Stadt und Land, Links und Rechts vereint. Diese breite Basis war bisher der breite Konsens über den Schutz von Natur und Landschaft in den Alpen.
Mit abstrakten Werten allein schafft niemand politischen Willen. Wer für mehr Biodiversität werben will, zeigt keine Tabellen mit Artenzahlen, sondern Bilder von schönen Blumen und faszinierenden Schmetterlingen. Der Erhalt der Berglandwirtschaft liegt einer breiten Bevölkerung am Herzen, weil sie die Bilderbuchlandschaft der Alpen liebt: Die Ausblicke und Eindrücke, die grosse Maler inspirierten, Filmer und Fotografen, die auf Postkarten und Instagram-Posts zum Träumen anregen, und die für viele Schweizer immer noch Inbegriff von Heimat sind.
Letzteres mag ein Grund sein, weshalb Leute, die sich schwertun mit dem Begriff «Heimat», seit längerem ein anderes Alpenbild vertreten. Eines, das eher an die Wildnis der Anden oder des Himalaya erinnert, mit Urwäldern, Geiern und allerlei gefährlichen Tieren. Ihr schlagkräftigstes Instrument ist der Wolf, den ein grosser Teil der Bevölkerung ins Herz geschlossen hat wie frühere Generationen Edelweiss und Enzian. Langsam, aber sicher, nagt seine Präsenz an der ökonomischen Basis der Alpwirtschaft.
Die Heimat gewinnbringend in einem Stausee ersaufen lassen
Gefahr droht aber auch von der anderen Seite. Wo es um kurzfristiges wirtschaftliches Interesse geht, zeigten die Vertreter der sonst so konservativen Bergkantone schon immer ein bisweilen überraschend fortschrittsfreundliches Gesicht. Die Heimat war nicht ganz so wichtig, wenn man sie gewinnbringend in einem Stausee ersaufen lassen konnte. Das Neue und Fremde war durchaus willkommen, wenn es in Gestalt eines milliardenschweren Investors auftauchte, der eine ganze Talschaft zu seinem privaten Geschäftsmodell ummodellieren wollte.
Und die Anliegen der wolfsbegeisterten «grünen Städter» werden plötzlich sehr ernst genommen, wenn sich Alpweiden mit Solarpanelen überstellen lassen, um klimafreundliche Energie für ein paar hundert Haushalte zu produzieren. Was für die regionale Wirtschaft hilfreich und im Einzelfall durchaus auch sinnvoll sein kann, hat aber einen gewaltigen Pferdefuss. Das wird deutlich, wenn das Bundesamt für Raumentwicklung ARE dem Sömmerungsgebiet ein «geringes Schutzinteresse» beimisst. Eine solche Aussage sollte eigentlich alle Alarmglocken schrillen lassen: Es zeigt, wie weit der politische Konsens, dass das Landschaftsbild und damit die Berglandwirtschaft als kulturelles und ökologisches Erbe erhaltenswert sind, erodiert ist.
Es ist modern geworden, ästhetische Fragen als Geschmacksache abzutun. In dieser Sichtweise ist jeder Ballermann-Hit prinzipiell nicht besser oder schlechter als Beethovens 9. Symphonie – «nur anders» eben. Wenn Windräder und Solarparks in ikonischer Alpenlandschaft nicht mehr als Verschandelung wahrgenommen werden, sondern als Frage des persönlichen Geschmacks, gibt es eigentlich keinen Grund mehr, Landschaftsschutz zu betreiben – es wäre nur noch biedere Geschmäcklerei, Nostalgie, etwas für Liebhaber und Träumer, aber nicht Sache der Allgemeinheit.
Nach dieser Logik wäre aber auch der Erhalt der Alpwirtschaft nur noch mit ökonomischen oder naturschutzbiologischen Argumenten begründbar. Und diese dürften zunehmend schwer zu finden sein.