Wer in Europa unter steigenden Preisen für Energie und Nahrungsmittel ächzt, reibt sich beim Blick in die Schweiz die Augen. Die Konsumentenpreise sind im Juni im Jahresvergleich «gerade Mal» um 3,4 Prozent gestiegen. Für die Schweiz ist das zwar die höchste Rate seit 1993. In Deutschland aber lag sie nach erster Schätzung bei satten 7,6 Prozent, in der Eurozone sogar bei 8,6 Prozent.

Die Inflationsrate wird in der Schweiz allerdings etwas anders berechnet. Zur besseren Vergleichbarkeit geben die Statistiker aber auch den in der Eurozone üblichen harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) an, dessen Anstieg im Juni mit 3,2 Prozent noch niedriger lag. In Deutschland dagegen war dieser Anstieg mit 8,2 Prozent höher.

Starker Franken erklärt nur einen Teil

Mit ein Grund für die vergleichsweise stabilen Preise in der Schweiz ist die Währung. «Wenn der Schweizer Franken aufwertet, werden importierte Güter für Konsumenten billiger», sagt Alexander Rathke von der Konjunkturforschungsstelle der Universität ETH. Dieser Effekt erkläre aber höchstens einen Prozentpunkt der Inflationsdifferenz.

Tatsächlich profitiert die Schweiz in Krisenzeiten, wenn Preise weltweit in die Höhe schnellen, von hohen Importzöllen auf Lebensmitteln und Agrarprodukte und bei Strom und Gas von Preiskontrollen.

Importzölle auf Nahrungsmittel

Thema Lebensmittel: Während die Lebensmittelpreise in der Eurozone und den USA im Jahresvergleich um rund zehn Prozent gestiegen sind, waren sie in der Schweiz fast konstant. Wie der Schweizer Bauernverband (SBV) schreibt, betrug die Teuerung im Mai 2022 innert Jahresfrist bei Nahrungsmitteln nur 0,9 Prozent. «Durch die protektionistischen Massnahmen sind die Schweizer Nahrungsmittelpreise von der Entwicklung auf dem Weltmarkt abgekoppelt», sagt Maxime Botteron, Ökonom der Credit Suisse.

Die Schweiz hebt den Preis für ausländische Agrarprodukte, die auch im Inland hergestellt werden, durch Importzölle auf das höhere Schweizer Niveau, um heimische Getreide-, Obst- und Gemüsebauern vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. «Wenn der Preis für Güter, die wir selber produzieren, am Weltmarkt steigt, sinkt nur der Zoll», sagt KOF-Experte Rathke.

Trotz bzw. wegen schlechter Ernte billige Tomaten 

Allerdings bezahlen die Schweizer in Zeiten ohne Krisen auch einen hohen Preis: «Die Preise sind zwar jetzt stabiler, dafür ist das Preisniveau aber auch sonst immer höher», sagt Rathke. Für Lebensmittel, die in den Nachbarländern zehn Euro kosten, seien in der Schweiz umgerechnet 18 Euro fällig. Weil 2021 die Schweizer Ernte schlecht war und in dem Fall fehlendes Getreide, Obst und Gemüse ohne hohe Importzölle importiert werden konnte, gab es sogar Schnäppchen: «Weil Tomaten aus Spanien und andere Nahrungsmittel aus dem Ausland billiger sind, fielen die Preise», sagt Botteron.

Das Blatt dürfte sich wenden

Der SBV nennt neben der dämpfenden Wirkung des starken Schweizer Frankens und dem Grenzschutz durch Importzölle noch weitere Gründe für den bisher sehr moderaten Anstieg der Konsumentenpreise für Lebensmittel: Verkaufte Inlandprodukte würden teilweise noch aus der letzten Ernte stammen. Ausserdem liefen Importe oft über langfristige Verträge und kämen und mit Verzögerung in den Verkauf. «Die Importpreise für verarbeitete Agrarprodukte sind erst spät angestiegen, dürften nun aber die Konsumentenpreise für Nahrungsmittel zunehmend beeinflussen», prognostiziert der SBV.

Verzögerter Preisanstieg beim Strom

Thema Energie: Die Schweiz deckt ihren Strombedarf fast ganz aus Wasser- und Atomkraft, während etwa in Deutschland viel Strom mit Gas produziert wird. Nur im Winter muss die Schweiz Strom importieren, dann könnten sich höhere europäische Preise auswirken.

Die Konsumenten bemerkten diesen Effekt aber nicht sofort, sagt Botteron, weil Stromversorger den Preis in der Regel einmal pro Jahr festlegen. «Das verzögert den inflationären Effekt.»

Die typischen Warenkörbe unterscheiden sich international

Hinzu kommt, dass sich die Warenkörbe zur Inflationsberechnung unterscheiden. Sie richten sich danach, wie viel Geld die Menschen im jeweiligen Land im Durchschnitt für welche Produktkategorie ausgeben. In der Schweiz machen Energiekomponenten wie Erdöl, Strom und Gas nur fünf Prozent am Warenkorb aus, während es in Deutschland knapp zehn Prozent und in den USA sieben Prozent sind. Der Anstieg der Weltmarktpreise bei Öl und Gas befeuern die Inflation in der Schweiz deshalb weniger. Dasselbe gilt für Lebensmittel. In der Schweiz liegt ihr Anteil im typischen Warenkorb bei 11,5 Prozent, in den USA bei 13 Prozent und in der Eurozone bei 15 Prozent.

«Je wohlhabender die Menschen sind, desto kleiner der Anteil, den sie für Nahrungsmittel ausgeben», sagt Rathke. Im Schweizer Konsumentenpreisindex schlägt dagegen die Gesundheitspflege mit fast 17 Prozent zu Buche, während es in den USA nur rund 8,5 und in der Eurozone rund 5 Prozent sind.

Preisdruck vom Online-Handel

Schliesslich gibt es strukturelle Gründe für die niedrigere Inflationsrate: Tendenziell sinken die Preise in der Schweiz eher, vor allem für Medikamente, aber auch für Möbel und Bekleidung, oder sie steigen zumindest nicht so stark wie in der Eurozone.

Das liegt unter anderem am Online-Handel, der inländische Händler unter Druck setzt, wie Botteron sagt: «In der Tendenz gibt es eine Anpassung in Richtung des Preisniveaus in der Eurozone.» So gesehen ist eine Inflationsrate von um die drei Prozent für die Schweiz ein «extrem hoher Wert», sagt Rathke.