Lebensmittel in der Höhe übereinander anbauen anstatt nur in der Breite und damit auf weniger Fläche viel mehr Ertrag erzielen: Der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner hatte diese Idee schon vor über 50 Jahren. Er entwickelte dazu ein rundum verglastes Turmgewächshaus, mit dem er unter anderem das Welternährungsproblem lösen wollte. An der Wiener Gartenschau 1964 stellte er das 41 Meter hohe Gewächshaus mit einem Durchmesser von gerade einmal acht Metern vor. In diesem wanderte das Gemüse in einem Fliessbandsystem durch die kontrollierte Atmosphäre im Gebäude von oben nach unten, um allen Pflanzen zu genug Licht zu verhelfen. Die Bewässerung war bereits automatisiert.

Erste Versuche mit Vertical Farming gab es 1965 im Aargau 

Der Schweizer Gärtner Ernst Haller war so fasziniert von der Idee, dass er ein Jahr später in seiner Gärtnerei im aargauischen Rüfenach ebenfalls ein Turmgewächshaus bauen liess. Das Fassungsvermögen betrug 5500 Topfpflanzen. Heute erinnert sich kaum mehr jemand an das auffällige Gebäude: Der 18 Meter hohe Turm steht schon lange nicht mehr. Aber Gemüsegärtner Max Schwarz senior aus der Region erinnert sich noch an die erste Schweizer Vertical Farm. Das sei damals eine recht grosse Sache gewesen, auch das Schweizer Fernsehen berichtete darüber. Weshalb das Ganze nicht funktionierte, weiss er aber nicht. Der Zeitzeuge hat eine Vermutung: «Wahrscheinlich fehlte es am Ende doch am Licht.»

Die Anbaumethode ist teuer und energieintensiv

Es sollten schliesslich viele Jahrzehnte ins Land gehen bis zum Bau der nächsten Vertical-Farming-Anlage im letzten Jahr in Basel, als die Firma Growcer mit Migros Basel ein Projekt startete. Das ETH-Spin-Off Yasai installiert zurzeit mit finanziellem Support der Fenaco auf 700 Quadratmetern eine weitere Pilotanlage in einer Industriehalle im zürcherischen Adliswil. Im Sommer soll erstmals geerntet werden. Die Ziele sind immer noch die gleichen, wie sie schon Pionier Othmar Ruthner hatte: Mehr Produktion auf kleiner Fläche, Einsparung von Arbeitskräften, reduzierter Pflanzenschutz, wegfallende Transporte sowie wetter- und jahresunabhängige Produktion. Die Möglichkeiten sind dank Technologiefortschritt und Digitalisierung heute deutlich besser. Natürliches Licht braucht es nicht mehr, dies übernehmen LED-Lampen in allen möglichen Farbspektren. Eine Studie der Harper Adams University in Grossbritannien berechnete, dass die Erträge im Vergleich zur konventionellen Produktion zehnmal höher und der Wasserverbrauch zehnmal geringer sind.

Allerdings stellten die Forscher auch fest, dass solche hydroponischen Anlagen im Vergleich zur Freilandproduktion achtzigmal mehr Energie verbrauchen. Die hohen Investitionskosten sowie der Energieverbrauch gelten denn auch als die grössten Hemmschuhe für die Ausbreitung des Konzepts. Doch Yasai-CEO Mark Zahran hat eine langfristige Perspektive: «Die Menschheit wird künftig vor allem ein Problem mit knappem Land und Frischwasser haben.» Das Energieproblem lasse sich lösen, denn alleine die Sonne gebe mehr als genug Energie ab. Er rechnet damit, dass dereinst entsprechende Speichertechnologien zur Verfügung stehen werden.

Eine Chance für hochpreisiges Gemüse

Der Schweizer Tom Zöllner ist Generalsekretär der in Brüssel stationierten FarmTech Society, einem Branchenverband für Unternehmen mit geschützten und kontrollierten Agrarsystemen (Englisch: Controlled Environment Agriculture (CEA)). Die Organisation arbeitet zurzeit unter anderem gemeinsam mit der Weltbank an einer globalen Marktanalyse zu solchen Anbausystemen, die Ende Jahr publiziert werden soll. Bis jetzt gebe es nämlich keine zuverlässigen Zahlen, sagt Zöllner. Er beobachtet aber vor allem im asiatischen Raum in dicht bevölkerten Gebieten eine starke Zunahme der «tageslichtunabhängigen» Produktion. In Europa sei England führend, was vermutlich am Brexit liege und dem dabei befürchteten Arbeitskräftemangel sowie möglichen Importhürden mit der EU. Überall, wo es bereits eine «normale» Gewächshausproduktion gebe – wie beispielsweise in der Schweiz –, käme das System eher schleppend voran.

Trotzdem sieht er auch in der Schweiz durchaus ein Potential für die Zukunft: «Gerade in der aktuellen Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig der Faktor Hygiene ist.» Unter diesem Aspekt drängten sich geschlossene, kontrollierte Systeme geradezu auf. Er sieht beispielweise eine Chance für Produkte mit hoher Wertschöpfung wie fixfertige Schnittsalate aus der Fabrik. Der Saatguthersteller Rijk Zwaan habe für diesen Zweck die Teen-Leaf-Salate speziell für den Anbau in Hydrokulturen entwickelt. «Das zeigt, dass Vertical Farming mehr als eine Spinnerei ist.»

Seeländer Gemüsegärtner sind dabei

In ihrer kleinen Test-Anlage in Adliswil wollen die Leute von Yasai unter anderem auch zusammen mit Forschern von Agroscope herausfinden, wie das System in der Schweiz funktioniert und welche Produkte sich anbieten. Entsteht da eine Konkurrenz für Schweizer Gemüseproduzenten? Mark Zahran winkt ab: «Wir wollen vor allem Produkte wie beispielsweise Kräuter oder asiatisches Gemüse produzieren, das sonst importiert wird.» Ökologisch fragwürdige Transporte liessen sich so vermeiden. Und im Sommer sei der Anbau von Jungpflanzen eine Option: «Unser System ist keine Konkurrenz, sondern komplementiert die einheimische Produktion.» Letztlich wolle die Firma den Schweizer Gemüsegärtnern eine technische Lösung für eine künftige Diversifikation in andere Märkte anbieten. Den Kontakt zur Praxis pflegt Yasai unter anderem über ein für das Projekt ins Leben gerufenes «Soundingboard», bestehend aus Seeländer Gemüseproduzenten, wo ein regelmässiger Erfahrungsaustausch stattfinden soll.

In der Gruppe dabei ist Pascal Gutknecht aus Ried bei Kerzers. Er selbst sei grundsätzlich interessiert an neuen Technologien. Er ist überzeugt: «Bei der Automatisierung und Digitalisierung stehen wir erst am Anfang.» Und hier würden sich solche Anlagen anbieten. Viele Kalorien können man mit einem solchen System zwar nicht produzieren, es eigne sich vor allem für Frischprodukte. «Doch es wäre doch cool, wenn beispielsweise in jeder Stadt eine solche Anlage zur Versorgung von Restaurants mit frischem Salat stehen würde», sagt Gutknecht. Er sieht auch kein Problem darin, dass sich diese Produkte preislich im oberen Biosegment bewegen werden. Er glaube, dass es selbst bei der Biokundschaft eine Bereitschaft für den Kauf von auf diese Art nachhaltig produziertem Gemüse gibt. «Es kommt letztlich darauf an, wie man die Geschichte dazu erzählt.»

Hohe Bodenpreise in der Schweiz

In Japan stammen schon zehn Prozent der Salate aus Vertical-Farming-Anlagen. Tom Zöllner sieht bei der Kundschaft von Gemüse aus der Fabrik vor allem Potential bei städtischen Millennials – die heute 20- bis 40-Jährigen. Ob sich die tageslichtunabhängige Produktion auch in der Schweiz dereinst etablieren kann oder sich nur in einer hippen Nische einnistet, wird sich zeigen. Gegen einen Boom sprechen vor allem ökonomische Faktoren wie hohe Bodenpreise ausserhalb der Landwirtschaftszonen, strenge Bauvorschriften und hohe Energiekosten. Zudem ist das Wasser trotz allem wohl immer noch zu wenig knapp, damit sich ein Umstieg aufdrängt.

Die in solchen Hightech-Anlagen möglichen Einsparungen von Dünger und Pflanzenschutzmitteln sind aber Argumente, die für die Technologie sprechen. Die aktuelle Pandemiesituation zeige zudem, wie schnell sich eine Situation ändern könne, sagt Gutknecht: «Wer weiss, ob wir nicht plötzlich viel mehr Lebensmittel selbst produzieren müssen?» Vertical Farming wäre in diesem Fall eine valable Option. Es gibt bereits Berechnungen für den Anbau von Weizen, wenn er unter künstlichen Bedingungen auf mehreren Ebenen angebaut wird. Pro Hektare wäre theoretisch ein Ertrag von 70 Tonnen möglich. Noch hört sich das alles etwas gar futuristisch an. Trotzdem weist Tom Zöllner von der FarmTech Society darauf hin, dass es für die Schweizer Gemüsebranche bereits jetzt ein Potential für die Nutzung von «Hybridsystemen» mit Vertical-Farming-Komponenten im normalen Gewächshaus gebe, beispielsweise bei der Produktion von Jungpflanzen.