Peter Hinder ist Unternehmensleiter der Micarna, eines Unternehmens des Schweizer Detailhandelskonzerns Migros. Die Micarna ist eine der führenden Fleischverarbeiterinnen der Schweiz. Nach 30-jähriger Tätigkeit in der Migros-Industrie – davon drei Jahre als CEO der Micarna – wird Hinder im kommenden Jahr seine derzeitige Verantwortung abgeben. Wir haben mit dem Agronomen über Selbstversorgungsgrad, Ernährung, Preise und die Entwicklung auf dem Fleischmarkt gesprochen.

Was kommt bei der Familie Hinder am Weihnachtsabend auf den Tisch?

Peter Hinder: Gemäss unserer Familientradition, die auf den Wunsch unserer Kinder unbedingt aufrecht zu erhalten ist, geniessen wir Fondue chinoise mit frisch geschnittenem Schwein, Rind, Lamm und Geflügel. Mit den köstlichen Saucen ist dies eine absolute Delikatesse.

Wie und wo kaufen Sie Fleisch ein?

Dies ist ein Fangfrage – selbstverständlich kaufe ich mein Fleisch bei der Migros oder in unserem Micarna-Shop ein. Für mich sind Qualität und Herkunft von zentraler Bedeutung. Natürlich ist die fachgerechte Lagerung ein wichtiger Erfolgsgarant für ein gutes Stück Fleisch.

Welchen Einfluss darauf nimmt Ihre Familie, namentlich Ihre vier Kinder?

In unserer Familie führen wir oft lebhafte Diskussionen über den Fleischkonsum. Unsere Kinder haben deshalb ein gutes Wissen rund um dieses wertvolle Lebensmittel. Sie legen grossen Wert auf die Qualität und die Herkunft des Fleisches. Bei einem Festessen ist Fleisch oder Fisch für uns einfach unverzichtbar und wird zelebriert.

Der Fleischkonsum nimmt weltweit zu. Der Schweiz wird im Gegenzug ein sehr zurückhaltender Konsum gepredigt. Wie ist das zu beurteilen?

Ein bewusster Konsum von Fleisch ist unabdingbar. Die weltweite Nachfrage erhöht sich stetig aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachstums. Die Produktionskapazität ist beschränkt und kann nicht beliebig ausgebaut werden. In der Schweiz ist der Pro-Kopf-Konsum in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen. Das heutige Niveau ist gerade im Vergleich zu anderen Industrieländern tiefer. Das zeigt, dass ein grosser Teil der Konsumenten in der Schweiz einen bewussten Umgang mit dem Lebensmittel Fleisch pflegt.

Wie sehen Sie das persönlich?

​Für mich steht nicht nur die Menge des Fleischkonsums, sondern auch die Art und Weise, wie wir das Tier verwerten, im Fokus. Konkret spreche ich von der Idee «Nose to Tail», mit welcher die Vollverwertung des Tieres angestrebt wird. Es geht darum, nicht nur die edelsten Teile zu konsumieren, sondern auch aus ethischen Gründen das gesamte Tier zu nutzen. Traditionelle Fleischprodukte wie Blut- und Leberwurst, Knochenbrühe und Ochsenschwanzsuppe sind nicht nur wertvoll, sondern auch sinnvoll in unserer Ernährung.

Brauchen wir denn wirklich so viel Fleisch auf unserem Speiseplan?

Was auf den Teller kommt, entscheidet letztendlich der Konsument. Die Präferenzen sind dabei sehr unterschiedlich. Essen geht über das blosse Überleben hinaus – es ist auch eine Frage des Genusses. Ich bin überzeugt, dass Fleisch einen wichtigen Beitrag zu einer ausgewogenen Ernährung leistet. Gerade im Bereich der sogenannten essenziellen Aminosäuren sind die Fleischproteine wichtig. In der Ernährungswissenschaft wird von der hohen biologischen Wertigkeit der tierischen Proteine gesprochen.

«Wahlfreiheit bleibt ein hohes Gut.»

Peter Hinder über die Bedeutung der Ernährung.

Was sagen Sie zum aktuellen Selbstversorgungsgrad der Schweiz?

Seit einigen Jahren ist ein Rückgang des Selbstversorgungsgrades zu beobachten. Aufgrund des anhaltenden Bevölkerungswachstums wird erwartet, dass dieser in absehbarer Zeit unter die 50-Prozent-Marke sinken wird. Denn trotz des Bevölkerungswachstums bleibt die schweizerische landwirtschaftliche Gesamtproduktion etwa gleich. Die jährlichen Schwankungen im Selbstversorgungsgrad hängen auch stark von jeweiligen Erträgen der pflanzlichen Produkte ab, die tendenziell stärker variieren als die tierischen Erträge. Der Selbstversorgungsgrad bei Fleisch ist jedoch mit rund 84 % hoch und über die letzten Jahre sehr konstant. Die Nachfrage nach Fleisch aus der Schweiz ist bei vielen Schweizer Konsumenten gross. Gleichzeitig hat die Schweiz die notwendige Kompetenz auf Stufe Landwirtschaft und klimatisch günstige Bedingungen für die Fleischproduktion.

Wenn wir hierzulande nach dem Muster der modernen Ernährungspyramide produzieren würden, dann hätten wir einen deutlich höheren Selbstversorgungsgrad. Das wäre doch eine gute und praktikable Lösung – oder etwa nicht?

In der theoretischen Betrachtung mag dies zutreffen. Dies würde jedoch voraussetzen, dass sich das Konsumverhalten ebenfalls an der Ernährungspyramide orientiert. Davon sind wir deutlich entfernt. Die Wahlfreiheit des einzelnen Konsumenten ist und bleibt ein hohes Gut.Doch auch die Realität der landwirtschaftlichen Produktion zeigt ein differenzierteres Bild. Die Ertragsvariabilität in der tierischen und pflanzlichen Produktion ist unterschiedlich. Insbesondere in der pflanzlichen Produktion beobachten wir nebst der Ertragsschwankung auch erhebliche qualitative Schwankungen, die sowohl von genetischen, klimatischen als auch von Bewirtschaftungsbedingungen abhängig sind. In Jahren mit ungünstigen Anbaubedingungen führt dies zu Ernteausfällen oder zur Abwertung von Produkten zu Futterzwecken und damit zu monetären Ertragseinbussen. Die standortgerechte Produktion wird gerade vor dem Hintergrund zunehmender klimatischer Extremereignisse je länger desto zentraler. Die tierische Produktion ist diesbezüglich resilienter.

Wir essen ungesund – heisst es. Wie sehen Sie das?

Ich habe gelernt, dass eine gesunde Ernährung ausgewogen sein soll. Neben dem ausgewogenen Speiseplan ist aber auch die Menge entscheidend; also auch nicht zu viel. Eines ist für mich klar: Es gibt nicht «die eine» gesunde Ernährung, sondern viele Theorien über gesunde Ernährung, die teilweise als «Religionsersatz» dienen. In der Schule wird heute jedes Kind mit der Ernährungspyramide vertraut gemacht. Beim Essen und Trinken scheint jedoch diese Pyramide oftmals in Vergessenheit zu geraten. Hier entscheidet im Normalfall der Bauch.

Es ist wohl einfacher, zu beantworten, was eine ungesunde Ernährung ist. So wissen wir, dass eine einseitige Ernährung gesundheitliche Konsequenzen haben kann. Der Mangel an essenziellen Nährstoffen kann zu Schäden führen. Noch wichtiger ist aber, dass die Ernährung dem Lebensstil angepasst wird. Die Ernährung sollte immer im Kontext unserer körperlichen Bedürfnisse betrachtet werden. Wer sich körperlich betätigt, hat einen höheren Kalorienbedarf, benötigt mehr Energie und kann somit üppig essen. Umgekehrt gilt aber auch: Wer gerne üppig ist, soll sich körperlich betätigen. Essen sollte aber auf jeden Fall lustvoll sein und, wenn immer möglich, im sozialen Rahmen stattfinden. Dadurch wird unser Wohlbefinden erhöht und dies kommt nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele zugute.

Wie sehen Sie die Entwicklung von Rind-, Kalb- und Schweinefleisch in der Schweiz? Wo geht es mit den einzelnen Sparten hin?

Der Gesamtbedarf an Fleisch in der Schweiz hat sich in den letzten zehn Jahren nicht wesentlich verändert. Was wir allerdings beobachten können, ist eine Umverteilung innerhalb der Fleischsorten. So hat der Verbrauch von Poulet zugenommen, der Konsum von Rindfleisch ist konstant geblieben und der Verzehr von Schweine- und Kalbfleisch hat abgenommen. Dieser Trend wird auch in den kommenden Jahren anhalten.

«Gesunde Ernährung, die als Religionsersatz dient.»

Peter Hinder über die unterschiedlichen Ansätze im Bereich des Fleischkonsums.

Vor 50 Jahren war Poulet eine Delikatesse, heute gehört es zum billigsten Fleisch, das zu bekommen ist. Eine solche Entwicklung ist doch alles andere als nachhaltig – oder wie beurteilen Sie das?

Das stimmt so nicht. Pouletfleisch ist in Bezug auf die Futtereffizienz sehr gut. Das bedeutet konkret, dass mit rund 1,5 kg Futter ein Kilogramm Wachstum produziert werden kann. Diese hohe Wachstumsrate trägt dazu bei, dass die Kosten pro Einheit deutlich gesunken sind. Pouletfleisch ist zudem für uns Menschen sehr gut verdaulich und gilt deshalb als wertvolles Nahrungsmittel.

Es gibt immer mehr kritische Stimmen, die sich gegen die Nutztierhaltung richten. Die vegane Ernährung ist im Aufwind. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung und wohin geht diese Reise Ihrer Meinung nach?

Ja, es existieren durchaus kritische Ansichten zur Nutztierhaltung: Ein Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung, den wir nicht ignorieren dürfen. Es ist aus meiner Sicht entscheidend, dass wir die Vor- und Nachteile von Nutztieren kritisch und fair debattieren. Im Gesamtkontext sind Nutztiere sehr wertvoll, denn sie veredeln Gras und Heu, Futtergetreide und Nebenprodukte aus der Nahrungsmittelindustrie zu wertvollen Lebensmitteln wie Milch, Fleisch und Eiern. Diese Selbstverständlichkeit geht in den heutigen Debatten manchmal unter.

Welche Argumente gibt es, die einen Fleischkonsum überhaupt noch rechtfertigen?

Ich habe in den vorangegangenen Fragen schon viele Gründe aufgezeigt und möchte mich nicht wiederholen. Mir scheint wichtig, dass die Ernährung sehr individuell sein soll und jede und jeder selber entscheiden darf, was auf den Teller kommt. Für den Fleischkonsum sprechen sicherlich die wertvollen Nährstoffe. Fleisch ist nämlich eine gute Quelle für Protein, Zink und Vitamin B. Diese Nährstoffe sind wichtig für eine ausgewogene Ernährung. Dank der Tierhaltung gelingt es uns, Futter zu veredeln und damit für die menschliche Ernährung zu erschliessen und aufzuwerten. Die gesamte Wertschöpfungskette ist zudem ein wichtiger Wirtschaftszweig, der Arbeitsplätze schafft und zur wirtschaftlichen Entwicklung vieler ländlicher Regionen beiträgt.

Im kommenden Jahr verlassen Sie die Micarna – was sind die Gründe?

Es sind persönliche Gründe. Nach 30 Jahren Migros-Industrie und zweieinhalb intensiven Jahren an der Spitze der Micarna-Gruppe habe ich mich dazu entschieden, im kommenden Jahr als CEO zurückzutreten. Natürlich werde ich meine Verantwortlichkeiten geregelt übergeben und selbstverständlich mit meiner Erfahrung und Expertise zur Verfügung stehen. Ich möchte danach die Chance ergreifen und wieder näher zu meinen agronomischen Wurzeln zurückkehren: Zurzeit bilde ich mich im Bereich Agrarrecht weiter.