Die Ukraine bahnte sich seit dem Zerfall der Sowjetunion und der friedlich-demokratisch erreichten staatlichen Unabhängigkeit Schritt für Schritt den Weg «zurück» als verlässlicher Lieferpartner einer Vielzahl von Agrarrohstoffen für Westeuropa und damit auch der Schweiz. Während für Afrika und den Nahen Osten die bereits zu Sowjetzeiten traditionelle Rolle als «Brotkorb» noch heute gilt, ist für Westeuropa heute eher der Begriff «Futtertrog Europas» passender.

Brotgetreide – Potenzial neu aufbauen

Aufgrund der Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs setzt auch die Schweiz insbesondere beim Brotgetreide auf einen hohen Selbstversorgungsgrad – weise und verständlicherweise. Dennoch importierte die Schweiz selbst in Zeiten des Kalten Kriegs Brotgetreide, phasenweise sogar zu branchenrechtlich regulierten Anteilen. Ein wesentlicher Grund: Die Sicherstellung einer gleichbleibenden Qualität, was klassischerweise mit sprichwörtlichen «Kanadaweizen» am Besten erreicht wurde. Je nach Verwendungsziel und qualitativen Anforderungen und als Ausgleich der Marktdynamik sind Brotgetreideimporte noch heute verbreitet – für viele überraschenderweise insbesondere im Biomarkt, denn die Inlandversorgung wächst hier seit Jahrzehnten nicht im gleichen Mass wie die Nachfrage.

In Zeiten unsicherer Beschaffungswege und der wachsenden Bedeutung verlässlicher Wertschöpfungspartnerschaften steigen die Chancen für europäische Kooperationen und verkürzte Lieferketten. Voraussetzung ist eine klare Qualitätsorientierung aller Beteiligten.

Einen richtungsweisenden Weg für zeigt eine 2023 neu lancierte Ukrainisch-Deutsche Kooperation auf. Um die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine zu erleichtern, haben Bundesminister Cem Özdemir und sein ukrainischer Amtskollege Mykola Solskyi ein Labor für Lebensmittelsicherheit und Veterinärmedizin sowie ein Pflanzenschutzlabor in der Ukraine eröffnet. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat das Labor mit der FAO über den bilateralen Treuhandfond finanziert. Insgesamt 2,7 Millionen Euro, zusammen mit Beiträgen aus der EU und Japan, wurden unter anderem für die Ausstattung des phytosanitären und veterinärmedizinischen Labors verwendet, um Abfertigungskapazitäten zu erhöhen.

Ukraine-Ernte 2023 – Erholung nach kriegsbedingtem Einbruch 2022

Die Ukraine hat 78,7 Millionen Tonnen neue Ernte eingefahren und ihre Agrarexporte in die EU um 11 Prozent gesteigert. In der dritten Dezemberwoche 2023 haben die Landwirte in allen Regionen der Ukraine 78,7 Millionen Tonnen Getreide und Ölfrüchte gedroschen: 57,86 Millionen Tonnen beziehungsweise 20,76 Millionen Tonnen. Im Vergleich zu den Daten vom gleichen Zeitpunkt vor einem Jahr ist die Gesamternte um 23,6 Prozent höher, insbesondere bei Getreide um 24,2 Prozent und bei Öl um 22,1 Prozent. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in diesem Jahr 88 Prozent der gesamten Anbaufläche für Mais geerntet wurden, während es vor einem Jahr nur 75 Prozent waren. Dem Bericht der Europäischen Kommission über den EU-Agrarhandel zufolge hat die Ukraine ihre Agrarexporte in die EU von Januar bis September im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 11 Prozent auf 8,75 Milliarden Euro gesteigert. Damit liegt das Land nach Brasilien und dem Vereinigten Königreich weiterhin an dritter Stelle unter den grössten Lieferanten von Agrarerzeugnissen in die EU. Im selben Zeitraum importierte die Ukraine landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 2,505 Milliarden Euro aus der EU – das sind +19 Prozent gegenüber 2022.

Vielfältige Perspektiven für echte Kooperationen

Anastasiia Bilych ist Chief Marketing Officer und Market Analyst beim grössten ukrainischen Biolandwirtschaftsunternehmen Agroindustrial Group Arnika Organic mit einer biozertifizierten Fläche von rund 18'000 Hektaren. Sie sieht verschiedene Erfolgswege und Perspektiven für die vielfältigen ukrainischen Biobranchen und den Unternehmen unterschiedliche Grösse und Ausrichtung: «Die Ukraine ist dazu bestimmt, ein starkes Agrar- und Lebensmittelland mit einem starken Inlandsmarkt und entwickelten Agrarexporten zu werden. Und das wichtigste Thema, an dem alle Lobbygruppen und Regierungszweige arbeiten sollten, ist die Schaffung von Voraussetzungen dafür, dass handwerklich hergestellter Käse aus den Unterkarpaten oder Erdbeermarmelade aus dem sonnigen Bessarabien oder Milch von den Weiden Polissias in den Regalen globaler Netzwerke landen kann.»

Anastasiia Bilych zeigt die Zusammenhänge am klassischen ukrainischen Agrarkultur auf: Sonnenblumen. «Die Exportbesteuerung von Sonnenblumenkernen hat die Entwicklung der Verarbeitung und der Ölproduktion gefördert, aber diese Entwicklung wurde auch durch die hohe internationale Nachfrage unterstützt. Umgekehrt stagniert die Mühlenindustrie vor dem Hintergrund unbegrenzter Weizenexporte und geschützter Exportmärkte für Weizenmehl», erklärt sie.

Eine ähnliche Situation zeigt sich beim Gemüse, das ebenfalls in grossen Mengen exportiert wird, aber kaum als Verarbeitungsprodukte. Für das Fehlen einer solchen Verarbeitung gibt es zumindest mehrere Gründe, wie Anastasiia Bilych erläutert: «Erstens sind die potenziellen Exportmärkte für Gemüsekonserven und verarbeitetes Gemüse insbesondere in der EU sehr wettbewerbsfähig. Zweitens ist die vertikale Integration zwischen Konservenfabriken und Gemüseproduzenten relativ schwach. Die Qualität des produzierten Gemüses entspricht oft nicht den nationalen und internationalen Standards. Daher wird ein grosser Teil des Gemüses vor Ort konsumiert oder roh exportiert.»

Russlands Westfront an der EU-Ostgrenze

Die Schwarzmeer-Route ist und bleibt für die ukrainische Agrarwirtschaft und die globale Ernährungssicherheit überlebenswichtig. Weitgehend im Alleingang gelang es den Ukrainischen Streitkräften trotz massiver russischer Angriffe seit der Aufkündigung des «Grain Deals» im Sommer 2023 die Seehoheit über die Schwarzmeer-Route zurückzuerlangen.

Gleichzeitig baut die Ukrainische Logistikbranche fortlaufend alternative Export- und Logistikpartnerschaften über den Fluss- und Schienenweg und, wo nicht anders möglich, auf der Strasse massiv aus. Leistungsstarke ukrainische Logistikunternehmen haben in Kooperationen mit ihren EU-Nachbarländern seit Jahren die entsprechenden Alternativrouten und Dienstleistungen auf- und seit Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 massiv ausgebaut. Ein eigentliches Revival erlebt die europäische Fluss-Logistik über die Donau und die europaweit verbundenen Transportwege.

Die sowohl kriegs- wie marktbedingt verstärkte Ausrichtung der ukrainischen Logistikwege auf Europa schafft zusätzliche Perspektiven für langfristige Kooperationen mit Blick auf die europäische Integration der ukrainischen Agrarwirtschaft. Für den im Kreml offen proklamierten russischen Machtanspruch auf die Ukraine stellt genau diese Entwicklung die eigentliche «Bedrohung» dar. In diesem Zusammenhang sind die regelmässig wiederkehrenden Grenzblockaden in Polen und weiteren Ländern an der EU-Ostgrenze zu verstehen. Die offiziellen agrarpolitisch motivierten Grenzschliessungen im Frühling 2023 konnten mit Massnahmen der EU-Innenpolitik, sprich Transferzahlungen aus Brüssel, eingedämmt werden.

Mittlerweile beeinträchtigen regelmässige und teilweise wochenlange wilde Lastwagen-Grenzblockaden an der EU-Ukrainegrenze die Logistikwege in beide Richtungen. Ein Ausweg bietet im Rahmen der vorhandenen Ressourcen der Güterschienen-Transport. Der treibende Akteur der Proteste an den ukrainisch-polnischen Grenzübergängen ist Rafał Mekler, Inhaber des Transportunternehmens Rafał Mekler Transport. Nicht überraschend: Er ist auch Vorsitzender der rechtsextremen Partei «Bund für Freiheit und Unabhängigkeit» in Lublin, die eine anti-ukrainische Rhetorik und enge Beziehungen zu Russland pflegt.

Soja trotzt Krieg und Krise

Jenseits der unmittelbaren militärischen Front erweist sich die ukrainische Agrarwirtschaft trotz grosser Einschränkungen als erstaunlich resilient. Besonders kriegs- und krisenfest: Der Sojaanbau. Dies ist zunächst agronomisch begründet. Soja besitzt als Leguminosen-Kultur die Fähigkeit, Stickstoff direkt aus der Luft zu «fixieren». Der Anbau ist daher weniger von der Düngerversorgung abhängig als Weizen und andere Getreidekulturen. Angesichts der kriegsbedingt zerstörten oder beinträchtigen Versorgungsstrukturen wichen viele Anbaubetriebe auf den Sojaanbau aus.

Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach gentechfreier Soja im Rahmen der europaweiten «Donau Soja»-Partnerschaft, welche heute fast vollständig die Versorgung aus China und Brasilien ersetzt hat. Donau Soja ist eine europäische, Multi-Stakeholder und gemeinnützige Mitgliederorganisation, die an der Umstellung der Proteinversorgung Europas teilnimmt und sich dabei besonders für eine gentechnikfreie Sojaproduktion einsetzt. Die Organisation hat ihren Sitz in Wien und ist durch Regionalbüros in Serbien, Ukraine und Moldawien vertreten. Über 300 Mitglieder in 27 Ländern, 866 zertifizierte Partner und 24 Regierungen europäischer Länder haben sich im Namen einer gemeinsamen Vision zusammengeschlossen. In der Schweiz nimmt die Branchenorganisation «Soja Netzwerk» eine koordinierende Rolle gegenüber Donau Soja einerseits und den 33 Mitglieder des Netzwerkes, darunter Beschaffungsunternehmen, Mühlen, Produzenten-, Label- und Umweltorganisationen sowie Detailhändler, ein. Sie repräsentieren alle wesentlichen Kräfte der Wertschöpfungskette der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft.

Tatsächlich wurden die Prognosen im Sommer zur Sojaernte 2023 nach dem Einfahren der heurigen Ernte sogar noch übertroffen. Das Rekordhoch in Europa wird auf 12,2 Millionen Tonnen Soja vorausgesagt. Die grössten Steigerungen gab es in der Ukraine mit einem Plus von knapp einer Million Tonnen um 20 Proznet auf 4,8 Millionen Tonnen. Das zeigt der aktuelle Donau Soja Market Report vom November. Damit erhöhte sich die europäische Erntemenge im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Viertel. Auch die Sojaernte in den EU-Staaten vergrösserte sich um 740'000 Tonnen auf mehr als 3 Millionen Tonnen. Die Welt-Sojaernte wird für 2023 auf insgesamt 400 Millionen Tonnen geschätzt. «Der Grossteil des in der EU verwendeten Sojas stammt nach wie vor aus nicht zertifizierten Quellen in Übersee, wo es zur Abholzung von Wäldern kommen kann. Wir sehen ein grosses Potenzial für den Ausbau regionaler, europäischer, gentechnikfreier und nachhaltig produzierter Soja-Wertschöpfungsketten sowohl in der EU als auch in europäischen Nicht-EU-Ländern», erklärt Donau-Soja-Präsident Matthias Krön.