Bei diesem Anblick blieb unseren Urgrossvätern buchstäblich die Spucke weg: Frauen in Hosen – etwas bis dahin Ungesehenes! Das Tragen von Hosen war für europäische und amerikanische Frauen jahrhundertelang tabu. 

Hosen als verbotenes Kleidungsstück

Um das Jahr 1900 – die Schweiz war gerade im Postkartenfieber – war sich der Urgrossvater ungeteilter Aufmerksamkeit sicher, wenn er am Stammtisch eine Karte mit den hosentragenden Hirtenmädchen von Champéry im Wallis aus seiner Brieftasche zückte. Denn: «Die eigentliche, naturgemässe Kleidung für das Weib bleibt der Rock», waren die selbst ernannten Moralhüter jener Zeit überzeugt. Frauen war es verboten, Hosen zu tragen. Verstösse wurden sogar polizeilich geahndet.

Nur am Rande würdigte die Männerrunde den Chic des traditionellen, scharlachroten Kopftuches, das die Val-d'Illiez-Frauen anmutig zu tragen wussten. Obwohl dieses auf den Schwarzweiss-Postkarten extra mit Gouache als roter Blickfang von Hand hinein gemalt wurde.

Bäuerinnen in Hosen als Postkartensujet

Die erste Postkarten-Serie war für die Fotografen und Kartenverleger, die Gebrüder Jullien aus Genf, ein derartiger Verkaufserfolg, dass sie ihre schweren Glasplatten-Kameras immer wieder hinauf ins Dorf, zuhinterst im Illiez-Tal, schleppten. Hier, am Fusse der imposanten Bergkulisse mit Dents du Midi und den Dents Blanches setzten sie die Champérolaines – jüngere wie ältere – mit ihren roten Foulards und in Hosen immer neu in Szene: mit Ziegen, Kühe hütend und strickend, Heu mähend, mit Milchgeschirr in der Hand oder auf einem Maultier sitzend.

Als Frau bei landwirtschaftlichen Arbeiten Hosen zu tragen, war in dem Unterwalliser Tal offenbar schon lange üblich. Die Genfer Historikerin Elizabeth Fischer verweist auf Aufzeichnungen der Gebrüder Bridel, Pfarrerssöhne aus Begnins VD. Diese wagten im Jahr 1797 eine Reise in die Walliser Alpen und berichteten von Bäuerinnen, deren Kleid in Hosenbeine überging. Das erschien den Frères Bridel ausgesprochen praktisch, da die Hirtinnen öfters Schneefelder durchkraxeln mussten.

Ein Hauch Erotik schwingt mit

Doch wie kam es zu den ersten dieser frühzeitlichen Mode-Shootings für die Postkarten? – Das pittoreske Dörfchen Champéry war einer der ersten Tourismusorte in der Schweiz. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts setzte im Tal der Fremdenverkehr ein, und das erste Hotel, das «Dents du Midi», wurde eröffnet. Die Kurhäuser und die Bergwelt wurden von den ersten Fotografen zu Werbezwecken ins Bild gesetzt – und so gerieten auch die Hirtinnen in Hosen in ihren Fokus.

Wurde in dieser Touristenwerbung mit den kecken «Paysannes» gar unterschwellig bewusst ein diffus erotisches Signal transportiert: die begehrenswerten alpinen Wesen? Zu dieser Ansicht könnte gelangen, wer in der Genfer-Illustrierten «La Patrie Suisse» von November 1908 liest: «Im Tal von Illiez tragen dessen hübsche Töchter mit den funkelnden Augen ihr braunes Haar durch ein leuchtend rotes Kopftuch gebändigt, was ihnen ein fast orientalisches Flair gibt.»

Bäuerin in Jeans und T-Shirt

«Comme si c’était hier», lacht Bergbäuerin Valérie Berra. «So war es in den alten Zeiten.» Sie steht beim urigen Chalet ihres Bergbauernhofs ob Champéry in ihrer Arbeitskleidung: bequemes T-Shirt und Jeans. Längst sind die Zeiten der eng zugeknöpften Jäckchen zu schwarzer Männerhose und rotem Foulard vorbei, mit denen die Bäuerinnen auf den alten Ansichtskarten berühmt wurden.

Valérie Berra und ihr Ehemann Stéphane betreiben auf ihrem Hof Agrotourismus. Touristen und neugierige Familien mit Kindern, die im Sommer erleben möchten, wie es auf einem Bergbauernhof zugeht, oder sogar mitanpacken möchten, sind bei ihnen an der richtigen Adresse. Diese können zum Beispiel im Hühnerstall Eier einsammeln oder unter Anleitung Kühe melken. Gerade für die Kids sei es faszinierend zu erleben, dass die Milch auf diese Weise gewonnen werde – und nicht in einer Fabrik aus Substanzen zusammengerührt ins Tetrapack kommt. 

Seit zwei Jahren stellt Berra auch noch Butter her. Beim «Anknen» nach alter Väter Sitte schöpft sie den Rahm von der Milch ab und bringt diesen ohne Zentrifuge oder elektrischen Mixer, nur dank Muskelkraft, zur neuen Konsistenz. Die Butter wird, wie früher, quasi aus dem Handgelenk geschüttelt.

Mit Leidenschaft bei der Arbeit

Valérie Berra teilt gerne ihre Leidenschaft für den Bauernberuf und lädt die Besucher ein, den Charme des Ursprünglichen zu entdecken. Eigentlich wäre der 35-Hektaren-Betrieb mit zwei Alpen auf 1100 Metern Höhe in der Bergzone III ja schon arbeitsintensiv genug – gerade im Sommer. Valérie und Stéphane Berra und ihre drei Kinder haben die steilen Wiesen zu heuen, auf denen der Einsatz von Maschinen nur beschränkt möglich ist. Und eine 50-köpfige Fleckviehherde will auf die Weide geführt werden. Sie besteht aus 30 Milchkühen und 20 Stück Jungvieh sowie Kälbern. Die Milch kommt in die nahe Käserei. Dort wird sie zu Raclette-Käse verarbeitet. 

Auf dem Hof ist das Regal mit den Produkten für den Direktverkauf meist reichhaltig gefüllt: mit Eiern vom Hof, Trockenfleisch, Raclettekäse, Kräuter-Saucisse nach Val-d’Illiez-Rezept, Zucchini in Essig sowie verschiedenste Konfis und Biskuits aus hofeigener Produktion. Ferien macht das Paar eigentlich nie. «Wir haben im Sommer hier auf dem Hof ja kostenlos ­Fitness, Sauna und Solarium», sagt Valérie Berra. Und: «Wenn man etwas gerne tut – dann ist es auch nicht Arbeit», ergänzt sie strahlend.

Nach zweitem Weltkrieg selbstverständlich im Alltag

Wann wurde in der Schweiz der Bann gebrochen, so dass sich die Hose als Teil einer weiblichen (Berufs-)Kleidung für Frauen wie Valérie Berra überall etablieren konnte? Ganz einfach – als es nicht mehr anders ging: Als die Frauen während des Ersten Weltkriegs die bislang von Männern geleistete Schwerstarbeit übernehmen mussten. Die Mehrheit dieser Frauen versuchte jedoch, sich vor und nach der Arbeit umzuziehen, um – dem Anstand entsprechend – den Schritt zu bedecken. 

Hosen als selbstverständliche Alltagskleidung für Frauen haben sich erst Ende der 1960er-Jahre, Anfang der 70er-Jahre durchgesetzt. Aber die Modehistorikerinnen sind sich einig: Der Erste Weltkrieg war der erste Schritt hin zu einer Akzeptanz der Hose als Unisex-Kleidungsstück.

Übrigens: Die Champéry-Bäuerinnen trugen in den alten Zeiten nicht nur Hosen. Sonntags kleideten sie sich zum Kirchgang in ihre wunderschöne Tracht – mit schwarzem Hut und Rock natürlich. Anlässlich von «La Fête des Vieux Costumes Champéry» – dem Trachtenfest vor der imposanten Kulisse der Dents du Midi im August – kann man sie noch heute so bestaunen.