Seit die Wolfspopulation in der Schweiz exponentiell wächst, ist die Diskussion über die Möglichkeit einer Koexistenz von Mensch und Raubtier zu einem politischen Schlachtfeld geworden. Am Anfang stand die Offensive der grünen Seite: Sie bejubelte die Rückkehr der ersten Wölfe, sang Loblieder auf das angeblich friedliche und scheue Tier, das unter dem Schutz der Berner Konvention endlich wieder seinen angestammten Platz in den heimischen Ökosystemen einnehmen dürfe. Bedenken der Bauern und Älpler wurden vom Tisch geputzt, man lachte süffisant über «Rotkäppchengeschichten» und präsentierte immer neue Massnahmen – darunter Esel und Lamas –, die angeblich völlig ausreichten, um der Lage Herr zu werden.

Es folgte der Backlash. Spätestens als sich abzeichnete, dass selbst Herdenschutzhunde vor Wölfen geschützt werden müssen (und das Pony einer bedeutenden EU-Politikerin unter Isegrims Opfer fiel, doch das ist eine andere Geschichte), erhielten die Wolfsgegner Aufwind. Bislang spektakulärster Erfolg: Die unter Bundesrat Albert Rösti im Eiltempo durchgesetzte präventive Regulation, d. h. die Elimination ganzer Wolfsrudel mithilfe von, wie später publik werden sollte, nicht eben waidmännischen Mitteln wie mobilen Jagdhütten, Nachtsichtzielgeräten und Hundefutter als Köder. Die Zahl der Wölfe wurde zwar drastisch reduziert, das Wachstum der Population aber nicht gestoppt, als Kollateralschäden zu verbuchen sind u. a. der irrtümliche Abschuss eines Herdenschutzhundes und die Tatsache, dass zumindest im Kanton Wallis viele Wölfe erlegt wurden, die gar nicht zu den zu regulierenden Rudeln gehörten.

Eine raubtierfreie Schweiz ist illusorisch

Langsam zeichnet sich ab, dass keine der beiden Seiten ihr Maximalziel erreichen wird. Die Zeit, in der jedes neue Wolfsrudel wie ein Wunder der Natur behandelt wurde, ist vorbei. Dass die Wolfspopulation in irgendeiner Form der Regulation bedarf, ist europaweit politischer Konsens. Illusorisch geworden ist aber auch, dass Westeuropa und damit die Schweiz in absehbarer Zeit wieder raubtierfreies Territorium wird. Für einen solchen Kraftakt fehlt den wirtschaftlich und demografisch ins Abseits geratenen ländlichen Räumen mittlerweile das politische Gewicht.

Noch ist es der Landwirtschaft, zumindest in der Schweiz, zuzutrauen, dem Bund weitere Zugeständnisse abzutrotzen. Bis dahin mag es wichtig sein, in aller Eindringlichkeit auf die Probleme der Betroffenen aufmerksam zu machen. Doch spätestens dann, wenn alle politischen Möglichkeiten erschöpft sein werden, müssen praktische Fragen in den Vordergrund rücken: Was funktioniert, was nicht? Und vor allem: Was funktioniert hier? Was funktioniert für uns?

Noch ist der Umgang mit dem Raubtier bürokratisch und geprägt von «Bücherwissen». Da gibt es umfangreiche Grundlagenforschung aus der Sowjetunion und aus Nordamerika, Fallstudien von Kleinst- und Restpopulationen im Mittelmeerraum, natürlich auch Modelle – aber wie sich «unsere» Wölfe hier tatsächlich verhalten, darüber scheint man immer noch erstaunlich wenig zu wissen. Immer wieder kommt es zu Überraschungen.

Lärm und Scheinwerferlicht als Lösung

Abo Nachteinsatz im Gebirge: Seit 2021 investierten Freiwillige über 60 000 Stunden in die Unterstützung des Herdenschutzes. Wolf «Wieder einmal durchschlafen»: Freiwillige helfen beim Herdenschutz Freitag, 25. Juli 2025 Um einen eigenen Weg im Umgang mit dem Wolf zu finden, braucht es mehr Beobachtungen an der Front. Und da leistet ein Angebot gute Dienste, das zuerst eher belächelt wurde: Freiwillige und Zivildienstleistende verbringen auch diesen Sommer viele Stunden damit, Nachtpferche zu bewachen. Dem Wolf haben sie nicht viel mehr entgegenzusetzen als Lärm und Scheinwerferlicht. Dennoch scheint das Konzept zu funktionieren: Trotz zahlreicher Wolfssichtungen gab es während der Nachteinsätze – nach Angaben der Organisatoren – bislang keine Risse. Die Älpler können also einigermassen ruhig schlafen, während die Freiwilligen – zumeist Wolfsfreunde, die durch ihren Einsatz Abschüsse verhindern wollen – Wache halten. Vielleicht noch wertvoller sind die Informationen, die sie auf diese Weise sammeln: Ihre Beobachtungen geben Aufschluss darüber, wie sich die Wölfe der Herde nähern, welches Sozialverhalten sie dabei an den Tag legen, wie sie vorhandene Hindernisse an- und allenfalls umgehen.

Wenig Abschüsse dank wenigen Rissen

Die Schafhirten der Zukunft werden Taktiken entwickeln müssen für den Umgang mit Raubtieren im Gelände. Dafür braucht es solche Beobachtungen – und viel Handlungsfreiheit, damit verschiedene Ansätze ausprobiert werden können. Vielleicht führt der Weg zur Koexistenz von Hirten und Wölfen nicht wirklich über immer neue Konzepte, amtliche Beurteilungen und Listen mit anerkannten Massnahmen, sondern über ein langjähriges Katz- und Maus-Spiel, in dem beide Seiten ihre Möglichkeiten ausloten, bis sich irgendwann ein Gleichgewicht eingestellt hat und man sich weitgehend in Ruhe lässt. So gesehen wäre es wohl am wirkungsvollsten, wenn die Behörden auch die Regulierung gleich den Hirten vor Ort überlassen würden – per Notwehrschuss in flagranti, dafür ohne militärisch geplante Rudelausrottungskampagnen im Winter danach. Das Optimum wäre: Möglichst wenige Abschüsse – dank möglichst wenigen Rissen.