Heute versammeln sich Anhänger(innen) der neuen Initiative für eine sichere Ernährung auf dem Waisenhausplatz in Bern. Mit einem Appell zur «Stärkung einer nachhaltigen inländischen Produktion, mehr pflanzliche Lebensmittel und sauberes Trinkwasser» ruft Franziska Herren vom Verein «Sauberes Wasser für alle» zur Unterschriftensammlung auf.
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Im Grunde genommen soll der Netto-Selbstversorgungsgrad (SVG) von heute 50% auf mindestens 70% gesteigert werden, heisst es. Um diese Forderung in Relation zu stellen: Im Jahr 2020 ( Quelle Agristat) präsentiert sich der SVG der Schweiz folgendermassen:
- Brotgetreide 81%
- Futtergetreide 62%
- Speisekartoffeln 90%
- Kern- und Steinobst 86%
- Konsummilch 95%
- Butter 85%
- Käse 110%
- Kalbfleisch 97%
- Rindfleisch 85%
- Schweinefleisch 92%
- Geflügel 60%
- Eier und Eikonserven 56%
- von tierischen Nahrungsmitteln allgemein, brutto 94%.
Nahrungsmittel, bei denen die Schweiz einen SVG unter 50% aufweist, sind:
- Pflanzliche Fette und Öle 24%
- Gemüse 48%
- Schaffleisch 46%
- pflanzliche Nahrungsmittel allgemein 39%
Den höchsten Selbstversorgungsgrad (SVG) weist die Schweiz bei Milch und Milchprodukten auf, wo regelmässig mehr als 100 Prozent des inländischen Bedarfs produziert werden. Stabil ist auch die Produktion von Kalb-, Rind- und Schweinefleisch. Hier beträgt der Grad der Selbstversorgung 85 bis 97 Prozent. Bei den pflanzlichen Produkten sorgt die Landwirtschaft vor allem bei den Speisekartoffeln und beim Brotgetreide für einen hohen Inlandanteil. Dank guter Wachstums- und Erntebedingungen konnten 2022 mit 81 respektive 90 Prozent höhere Werte als in den beiden Vorjahren erzielt werden. Auch beim Stein- und Kernobst steigt der Selbstversorgungsgrad (86 Prozent) gegenüber dem Vorjahr. Den geringsten SVG weisen die pflanzlichen Öle und Fette mit einem knappen Viertel auf. Dieser Anteil konnte dank einer Produktionssteigerung bei den Ölsaaten trotz steigenden Konsums gehalten werden.
Über alle Nahrungsmittel betrug der SVG im Jahr 2020 56 Prozent brutto und 49 Prozent netto. Der leichte Rückgang der Vorjahre setzte sich dabei fort. Die rückläufige Tendenz war vor allem darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerung stärker wuchs als die Nahrungsmittelproduktion. Die ständige Wohnbevölkerung ist in den letzten zwanzig Jahren um rund einen Fünftel gewachsen. Als Folge dieser Bevölkerungszunahme steigt der gesamte Konsum von Nahrungsmitteln kontinuierlich an.
Weitere Anliegen der Initiantinnen und Initianten sind:
- Die Sicherstellung von sauberem Trinkwasser und die für eine nachhaltige Trinkwasserversorgung nötigen Grundwasserressourcen
- Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit und mehr samenfestes Saat- und Pflanzgut sollen als Produktionsgrundlagen für eine nachhaltige Landwirtschaft gewährleistet sein
- In der Folge sollten so «Pestizide und Kunstdünger» ersetzt werden
- Die Land- und Ernährungswirtschaft soll vermehrt auf die Produktion und den Konsum von pflanzlichen Lebensmitteln ausgerichtet werden
- Zum Schutz der Umwelt und des Klimas dürfen die Höchstwerte für Dünger (N-Verbindungen und Phosphor) nicht mehr überschritten werden
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«Tierproduktion massiv überschritten»
«Heute wird die mit Importfutter angeheizte Produktion von tierischen Lebensmitteln - 16 Millionen Nutztiere leben permanent in der Schweiz, rund die Hälfte davon mit Importfutter ernährt - massiv überschritten, beim giftigen stickstoffhaltigen Gas Ammoniak um 70%. Dadurch werden unsere Böden, Wälder und Gewässer überdüngt, unser Trinkwasser mit Nitrat belastet sowie die Biodiversität und die Bodenfruchtbarkeit zerstört. Das gefährdet unmittelbar unsere Ernährungssicherheit», schreiben die Initiant(innen).
«16 % der in der Schweiz verfütterte TS stammt aus dem Ausland»
Christian Oesch, Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung der Futtermittelfabrikanten, verweist auf die Futterbilanz Schweiz und sagt: «Die Beurteilung der Inlandversorgung mit Futtermitteln verlangt nach einer Gesamtbetrachtung, wofür die Bilanz eine Basis bildet». Oesch will in diesem Zusammenhang einige Zahlen nennen: «Die Inlandversorgung mit Futter ist seit Jahren konstant. Sie lag 2022 bei knapp 84%. Lediglich 16% der in der Schweiz an Nutztiere verfütterten Trockensubstanz stammt aus dem Ausland». Der Chef der Futtermittelfabrikanten räumt jedoch ein, dass die Futtermittelbilanz bei Kraftfutter mit 37,2% Inlandversorgung in der Tat wenig positiv heraussticht. «Monogastrier wie Schweine und Hühner sind auf Kraftfutter angewiesen. Sie können Gras und Heu nicht verwerten wie die Raufutterverzehrer», schreibt Oesch auf Anfrage.
«Massiv weniger Futtergetreide im Inland hergestellt»
Christian Oesch äussert sich auch zur Zunahme der importierten Futtermittel: «Während sich der Schweizer Markt für Kraftfutter in den letzten 15 bis 20 Jahren nicht wesentlich verändert hat, musste sich die Futtergetreideproduktion einer wahren Rosskur unterziehen. Anfang der Neunzigerjahre lag die Inlandfuttergetreideproduktion ohne Körnermais noch bei über 800 000 Tonnen. Sie fiel bis 2022 auf knapp 300 000 Tonnen».
Grund für diesen Zusammenbruch sei unter anderem das Verfütterungsverbot von tierischen Eiweissen, erklärt Oesch. Und: Der starke Fokus auf die Ökologisierung und die leichte Steigerung der Fleisch- und Eierproduktion andererseits hatten zur Folge, dass die ergänzenden Rohstoffimporte zugenommen haben.
«Keine Ernährungsweise ausschliessen»
Man wolle keine Ernährungsweise ausschliessen, heisst es vonseiten der Initianten(innen). Und es gehe keineswegs um eine Umerziehung der Bevölkerung. Aber mit gleich langen Spiessen wolle man kämpfen. Das Komitee enerviert sich darüber, dass die Produktion von tierischen Lebensmitteln stärker gefördert werde als die pflanzliche (2,3 Milliarden gegenüber 0,5 Milliarden).
Aber der Fleischkonsum steigt weiter an
An dieser Stelle muss man doch erwähnen, dass der jährliche Pro-Kopf-Fleischkonsum der Schweizer Bevölkerung 2021 gegenüber dem Vorjahr um 1,8 Prozent auf 51.82 kg gestiegen ist. «Die gesamte konsumierte Fleischmenge betrug 456 034 Tonnen Verkaufsgewicht, was einer Zunahme von 1,9 Prozent entspricht», ist dem neusten Agrarbericht zu entnehmen. Der Konsum von Geflügelfleisch gehe nur deshalb so durch die Decke, weil es gar nicht nachhaltig produziert werden könne. In der Folge sei der Preis zu tief, das Fleisch werde deshalb immer stärker nachgefragt, so ein Unterstützer der Initiative. Fehlinformationen über dieses Fleisch würden den Konsum weiter anheizen.
Mehr Geld soll in die Ausbildung fliessen
Schliesslich verlangt die Initiative, «dass die jährlichen Subventionsmilliarden sowie Forschung, Beratung und Ausbildung dem Auftrag der Ernährungssicherheit, der auch sauberes Trinkwasser einschliesst, nicht mehr zuwiderlaufen. Die Landwirtinnen und Landwirte werden bei den nötigen Anpassungen der landwirtschaftlichen Produktion vom Bund zusätzlich finanziell unterstützt.»
Was ändert sich konkret?
Was sich konkret für die Landwirtschaft ändern würde, scheint noch unklar. Im Gespräch mit der Initiantin Franziska Herren stellt man aber fest, dass sie vor allem die Politik umgestalten will, damit diese attraktivere Anreize für die pflanzliche Produktion zur menschlichen Ernährung schafft.
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Adrian Hirt, Inhaber der Bündner Fleischverarbeitungsfirma Alpahirt, kann sich vorstellen, dass es vor allem im Bereich der Geflügel- und Schweineproduktion Änderungen geben wird. Was in seinen Augen aber auch überfällig ist, weil ebendiese Nutztierarten am meisten von Kraftfutter abhängig seien. Wohingegen Grasfresser wie Schafe, Rinder, Wildtiere, welche die Biodiversität gerade im Alpenraum hochhalten, weiterhin und etwa im selben Mass konsumiert werden könnten, schätzt Hirt. «Für ganz viele Landwirte wird sich wenig ändern», so Hirt. «Im Gegenteil: Am Schluss soll der Landwirt, der Lebensmittel zur direkten menschlichen Ernährung anbaut, stärker unterstützt werden als derjenige der Tierfutter anbaut.»