Die Regisseurin wohnt in einem ehemaligen Schulhaus in Romoos LU sowie zeitweise in Zürich. Die Ruhe und den Blick auf die Alpen schätzt sie zum Schreiben.

Alice Schmid, ist "Das Mädchen vom Änziloch" mehr Dokumentar- oder Spielfilm?
Alice Schmid: Ich drehe Dokumentarfilme, somit ist auch in diesem Film nichts inszeniert, sondern nur beobachtend. Der Eindruck eines Spielfilmes entsteht wohl durch drei Gründe. Laura schreibt Tagebuch und diese innere Stimme zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Den Landdiensteinsatz von Thom habe ich organisiert, denn ich brauchte jemanden von aussen, der Laura über das Änziloch ausfragen würde. Das war das Einzige, was ich gesteuert habe. Weiter tragen auch Kameraführung und Schnitt zum Spielfilmcharakter bei.

Das Änziloch fasziniert Sie und Sie waren schon als Kind viel im Entlebuch. Ist der Film auch autobiografisch?
Das ist er in der Tat ein bisschen. Laura ist in vielen Punkten ähnlich wie ich. Sie besuchte mich zum Beispiel oft und wollte wissen, wie ich Tagebuch schreibe.

Der Film zeigt ungeschönt den manchmal harten Alltag der Bauern. Befürchten Sie keine negativen Folgen für diese?
Nein, ich mache Filme, wie ich sie richtig finde. Es geht ja ums Leben und Sterben, das Thema ist Verbannung, Wegschauen, Schweigen und Dunkelheit. Hier ist es einfach so, ins Änziloch geht man nicht. Dort sei ein schwangeres Mädchen verbannt worden. Durch die Ausgrenzung war es ja doppelt gestraft, diese Vorstellung bricht mir das Herz. Ich zeige aber auch viele schöne Bilder, die unglaubliche Landschaft, die ich so liebe. Diese Gegensätze suche ich bewusst.

Oft setzen Sie nur Bilder ohne erklärende Sprache ein. Mit welchem Ziel?
Wenn im Kino ein Bild steht, ohne Worte, gibt das dem Zuschauer die Möglichkeit, selber zu reflektieren. Zum Beispiel als der Hase geschlachtet wird. Die Leute essen Fleisch, ohne zu überlegen, dass ein Tier dafür sterben muss. Für Laura ist das selbstverständlich und ihre Reaktionen sind unverfälscht und berührend.

Was können die Zuschauer vom Film lernen?
Laura ist ein Geschenk, und dass man ihr zuschauen darf. Als ich sie fragte, warum sie diesen Film machte, gab sie folgende Antwort: "ch würde mich freuen, wenn ich anderen Mädchen Mut machen könnte, auch mal etwas Unerlaubtes zu tun. Und andere dicke Kinder möchte ich ermutigen, auch in einem Film mitzuspielen."

Sind Ihre Filme ein Brückenschlag zwischen der Stadt- und Landbevölkerung?
Diesen Gedanken habe ich mir nie gemacht, ich wollte einfach übers Änziloch drehen. Ich erzähle meine Geschichten für alle und hoffe, dass sie die Leute ansprechen. Mit diesem Ziel vor Augen gelänge mir das vielleicht gar nicht. Ich bin mehr Poetin als Journalistin.

Haben Sie Anliegen an die ländliche oder bäuerliche Bevölkerung?
Die Änzilochgeschichte hat mit Vergangenheit zu tun. Gerade in solchen Gegenden ist Schweigen oft noch immer einfacher als dieses zu brechen. Ich verstehe das, die Leute sind aufeinander angewiesen auf ihren Höfen. Und das typische "I wett de nüd gseid ha" hat durchaus seinen Charme. Aber in Sachen Offenheit besteht schon noch etwas Aufholbedarf.
Ich weiss auch noch nicht, wie der Film in Romoos ankommt. Was ich aber sagen kann, ich habe mit viel Liebe und Respekt gedreht. Die Landbevölkerung liegt mir sehr am Herzen. Sie pflegen die Landschaft und wissen noch, was sie daran haben.

Was entdeckten Sie selbst im sagenumwobenen Änziloch?
Mit 50 Jahren war ich das erste Mal dort unten. Den Weg zu finden, hat mich Wochen und ein paar gebrochene Rippen gekostet, denn er ist steil und gefährlich. Dann habe ich am Fusse der Felswand ein Feuer gemacht und einen Cervelat grilliert, während von der Nagelfluh immerzu Steine in die Tiefe gedonnert sind. Es war unheimlich und mir standen die Haare zu Berg. Zuunterst hat es ein uraltes Haus. Bei den Dreharbeiten wollte Laura dieses anschauen. Sie öffnete die Tür und trat gleich erschrocken zurück. Dann wollte sie doch wissen, was sich im Innern dieses Hauses befindet, aber die Tür war plötzlich verschlossen. Solche Erlebnisse sind unerklärlich und das ist auch gut so. Ich bin sicher, es gibt eine höhere Macht, die man nicht erklären kann.

Dann haben Sie, obwohl Sie Dokumentarfilme drehen, nicht den Drang zu erklären?
Ich bin der Meinung, jeder erklärende Satz ist lähmend und nimmt die Fantasie der Geschichte. Die Leute sollen selber überlegen können.

Was schätzen Sie an der Schweizer Landwirtschaft?
Ich war in über 50 Ländern und habe riesige Farmen mit Monokulturen gesehen. Die Schweizer Bauern arbeiten im Kleinen und tragen Sorge zum Land. Am besten kenne ich die Strukturen im Entlebuch, ich habe grosse Achtung vor den Bergbauern. Und die Nahrungsmittel haben eine Qualität, wie ich sie im Ausland nie bekommen würde. Die regionale Identität der Produkte könnte wohl noch mehr ausgeschöpft werden. Wie mit dem Kräutermarkt in Escholzmatt, den finde ich grossartig. Bei solchen Anlässen habe ich Herzklopfen.

Sehen Sie sich als eine Art Botschafterin der Region Entlebuch?
Das wäre ich wirklich gerne! (lacht) Obwohl mir leider die Zeit dazu fehlt. Diese Region ist ein Geschenk. Ich singe im Trachtenchor Romoos und habe dort wahre Freundinnen gefunden. Solche Frauen müsste es mehr geben, die Gespräche drehen sich um reale Sachen, keine Oberflächlichkeiten. Ich besitze mittlerweile sogar eine Luzerner Sonntagstracht. Obwohl ich viel arbeite, würde ich nie eine Probe auslassen. Und im Entlebuch kann ich selbst wieder ein bisschen Kind sein, unverfälscht und unvoreingenommen.

Interview Andrea Gysin