Die Kraft schwindet und damit das Selbstwertgefühl. Altlasten kommen hoch sowie Angst vor dem, was kommen könnte. Dem Sprichwort «Älter werden ist nichts für Feiglinge» können Marie Leu und Beatrice Rinderknecht voll beipflichten.

Viel lesen hilft

Marie Leu, 85-jährig, war einst Bäuerin auf dem Staatsbetrieb Löwenstein in Neuhausen SH. Sie versorgte Familie und Lehrlinge, half überall mit auf dem Betrieb, engagierte sich in der Politik und in Verbänden. Vor zwei Jahren musste sie aus gesundheitlichen Gründen ihr Eigenheim verkaufen. Heute verbringt sie ihre Zeit mehrheitlich in der Wohnung mit Blick auf die Berge und den Rheinfall.

«Einfach nichts tun ist für jene, welche immer sehr beschäftigt waren im Beruf, sehr schwer», erklärt Marie Leu. «Man ist es nicht gewohnt, sich selbst etwas zu gönnen.» Sie liest viele Bücher und Zeitungen und interessiert sich dafür, was in der Welt passiert. «Das macht das Leben immer noch spannend.»

«Man darf sich nicht erlauben, zu denken, man sei nichts mehr wert.»

Marie Leu hat gemerkt, dass in Sachen Akzeptanz vieles im Kopf passiert.

«Ein tägliches Sterben»

Es ist nie einfach, sich von der gewohnten Umgebung zu lösen. Noch schwerer waren für Marie Leu aber die Monate vor dem Tod ihres Ehegatten. «Es war ein tägliches Sterben mit ihm.» Das Ertragen der Grenzen des anderen sei oft schwieriger als die eigenen.

Im Alter ist Verlorenes, sei es physische oder psychische Kraft, wirklich verloren. Es ist nicht wie bei einer Grippe, bei der man weiss, dass es besser wird. «Das Schwierigste ist, lernen, zufrieden zu sein, auch ohne Leistung», betont die Altbäuerin. «Man darf sich nicht erlauben, zu denken, man sei nichts mehr wert. Nur negativ zu denken wäre fatal für die Gesundheit.»

Autogenes Training half Marie Leu

Dass man Zufriedenheit auch lernen kann, wurde Marie Leu in einem Kurs für autogenes Training bewusst. Dort erfuhr sie, wie man die Beherrschung über den eigenen Körper erlangen kann. «Man kann etwas dazu beitragen zu einer positiveren Einstellung zum Alter und den dazugehörigen Bresten.» Die Seniorin freut sich täglich bewusst an Kleinem. Zum Beispiel an den fröhlich leuchtenden Kapuzinerblüten auf ihrem Tisch.

«Die alten Leute sind wie wir alle, sie denken nicht an das, was kommen könnte. Man kann es sich nicht vorstellen, bis man drin ist.» Genau dieses Verdrängen kann aber zu unglücklichen Überraschungen führen. Wer sich Gedanken macht, solange es noch Optionen gibt, zum Beispiel bezüglich Wohnmöglichkeiten, kann mitbestimmen und wird nicht bestimmt.

Der Abschied machte Mühe

Beatrice Rinderknecht aus Zürich war bis Ende 2022 Paar- und Familientherapeutin, Mediatorin und unter anderem Mitglied des Beraterteams des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands. Was die 72-jährige Frau einst ihren Klienten mitgab, buchstabiert sie nun selbst durch.[IMG 2]

Mit 65 Jahren musste sie ihre öffentliche Stelle aufgeben. «Ich hatte sehr Mühe, dort Abschied zu nehmen. Ich war so eingebunden in der Arbeit», sagt die Sozialarbeiterin. Sie baute ihre private Praxis aus. Nebst ihrem Interesse an Politik engagierte sie sich intensiv für sozial und ökologisch nachhaltige Projekte.

«Ich will das nicht mehr»

Dann wurden die viele Termine und Themen im Kopf zur Last. «Das kennen ganz viele Frauen, dass man häufig am Rand ist. Man schaut zu den Kindern, dem Mann, den alten Eltern … man hat häufig wenig Zeit für sich selbst», erzählt die Fachfrau. «Ich merkte, ich kann und will das nicht mehr.» Sie machte, was so oft geraten wird: Sie baute ab, schloss ihre Praxis, trat etwas zurück.

Es änderte an ihrem Zustand wenig. «Es braucht nicht nur einen äusseren Prozess, sondern auch einen inneren», ist Beatrice Rinderknecht überzeugt. Sie hatte Angst vor der Aufgabe ihres Berufes, dem sie mit viel Herzblut und Energie nachging. Im Frühjahr 2022 war sie zwei Monate lang krank. Irgendwann sagte ihr Körper: «Es ist gut, es ist fertig.» Von da an konnte sie sich lösen.

Das eigene Leben hat einen schönen Abschluss verdient.»

Beatrice Rinderknecht hat es geholfen, das Leben Revue passieren zu lassen.

Sich feiern lassen

Geholfen haben Beatrice Rinderknecht die Abschiedsfeiern. «Man hat mir gedankt und mich gewürdigt.» Auf einem Bauernhof geht die Arbeit meist auch nach einer Hofübergabe weiter. Vielleicht könnten pensionierte Bäuerinnen und Bauern ein kleines Fest machen, an dem die persönlichen und betrieblichen Errungenschaften gefeiert werden, schlägt sie vor. Zum Beispiel mit den benachbarten Bauern oder der Maschinengemeinschaft.

Es kommt bei vielen Menschen eine Zeit, in der das Versöhnen wichtig wird. Sich versöhnen mit dem, was nicht war, was schiefgelaufen ist oder mit Schuldgefühlen. Beatrice Rinderknecht schlägt vor, das Leben nochmals anzuschauen – mit einer Person, die zuhören kann, ohne zu werten. «Das eigene Leben hat es verdient, dass es in einer schönen Art zum Abschluss gebracht wird», hält Rinderknecht fest. In jedem Leben sei nicht nur Negatives, sondern sehr viel Gutes dabei.

Grenzen von aussen

Reichen die Kräfte nicht mehr so gut, könnte man zum Beispiel die Kinder fragen: «Ist es nötig, dass ich noch den Garten mache oder im Stall helfe?» Es kann hilfreich sein, wenn die Grenzen von aussen gesetzt werden, ehe eine Krankheit auftritt.

Loslassen, abgeben kann eine neue Freiheit bringen; die Zeit selbst gestalten, sich neue, sinnerfüllende Aufgaben suchen. «Auch wir Alten brauchen eine Aufgabe», sagt Beatrice Rinderknecht.

Oder – wie ein 96-jähriger Mann einst über den Sinn seines Lebens sagte: «Ich versuche alle Tage, jemandem eine Freude zu machen.»