«Ist das nicht schön?», fragt Anne Challandes und schaut aus dem Fenster im Zug zwischen Bern und Les Hauts-Geneveys, ihrem Heimbahnhof. Hier könne sie durchatmen, sagt die Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands (SBLV).

Nationalrat ist kein Thema

Die Strecke kennt sie auswendig. «1 bis 4 Tage pro Woche bin ich unterwegs», berichtet die Juristin mit Anwaltspatent. Neben ihrem Präsidium ist sie Vize beim Schweizer Bauernverband, Stiftungsrätin bei Agrisano und beim FiBL, Verwaltungsrätin im Elementarschädenfonds und Mitglied der Beratenden Kommission für Landwirtschaft (Beko).

Da fehlt eigentlich nur noch ein Nationalratsmandat. Anne Challandes winkt ab. Trotz mehrerer Anfragen sei ein Engagement in der Politik im Moment kein Thema. Sie wolle den vollen Fokus auf die Bäuerinnen und die Landwirtschaft bewahren. Mit einem Parlamentssitz würde das schwieriger, ist sie überzeugt.

Analysieren und entscheiden

Die Politik fasziniert sie trotzdem. Anne Challandes liebt die Debatte, sagt sie, «dabei macht es gar nichts, wenn etwas kontrovers diskutiert wird». Aber selber führe sie meist nicht das lauteste Wort: «Ich nutze gerne die diplomatische Schiene», sagt sie schmunzelnd, sie führe gerne Leute zusammen. Aber manchmal müsse man in ihrer Rolle halt Entscheidungen fällen. «Ich analysiere und treffe dann meine Wahl», so die 54-jährige Neuenburgerin.

Unterdessen sind wir in ihrer Heimat eingetroffen, im Park-and-Ride steigen wir in den Familienwagen um. Ziel ist ein Steinhaus aus dem vergangenen Jahrhundert, daneben ein ebenso angejahrtes, aber gut erhaltenes Ökonomiegebäude. Challandes atmet wieder durch und zeigt stolz die Aussicht über das Val-de-Ruz.

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Ein Betrieb – zwei Standorte

Sie, ihr Mann Stéphane und der älteste Sohn Simon bewirtschaften einen 65-Hektaren-Betrieb mit zwei Standorten. Der zweite liegt im Talboden. Die Kombination hat sich aus familiären Konstellationen ergeben und sich bewährt.

Simon – ausgebildet als Landschaftsgärtner und Landwirt – ist vor allem zum Mittagessen zu Hause, die zwei jüngsten Kinder – Biologie-Student Guillaume und Maturandin Camille – haben derweil ihre Zimmer noch bei den Eltern. Antoine, der Zweitälteste, studiert Architektur in Freiburg und hat seine Zelte zumindest vorübergehend dort aufgeschlagen.

Anwältin für die Bäuerinnen

Die Familie spielt eine wichtige Rolle in Anne Challandes’ Leben. Man sieht sich zwar seltener unterdessen, alle sind erwachsen und selbstständig, aber regelmässig trifft sich die ganze Schar am grosszügigen Küchentisch mit Aussicht auf das Tal oder an der Feuerstelle im Garten und diskutiert. Zum Beispiel über die Pläne der Familienmitglieder. Vor ihrer Kandidatur für das SBLV-Präsidium im Jahr 2019 war das natürlich ein Traktandum für den Familienrat. Alle hätten ihr grünes Licht gegeben, sagt Challandes. «Jetzt bist du dran», lautete der Tenor.

Zuvor hatte sie mehr als 20 Jahre mehr oder weniger die volle Arbeitskraft in Haus, Hof und Familie investiert. Ohne Reue, wie sie betont. Die Juristin mit Anwaltspatent war eigentlich nicht prädestiniert für die Rolle als Bäuerin. Aber das Erlernte kann sie in ihrer gegenwärtigen Rolle bestens brauchen, sei es die Sprachenvielfalt oder die juristischen Kniffe, für die andere Verbände Spezialist(innen) beiziehen müssen.

Liebesbörse Landjugend

Die entscheidenden Liebesweichen wurden wie in so manchem bäuerlichen Leben in der Landjugend gestellt. Als Tochter eines Landschaftsgärtners und einer Papeteristin kam Challandes als Jugendliche ins Val-de-Ruz. Dort schloss sie sich dem Verein an, um Kontakte zu den Gleichaltrigen zu knüpfen. Hier traf sie erstmals auf Stéphane. Sie sangen gemeinsam im Chor und verloren sich dann für einige Jahre aus den Augen. Später funkte es erneut und bis heute scheint an der Harmonie wenig geändert zu haben.

Challandes rühmt ihren Ehemann für seine Flexibilität und seine Unterstützung. Er packe im Haushalt an und kaufe ein. Wenn er Lust habe, koche er etwas oder esse eine Cervelat. Ähnliches gelte für die erwachsenen Kinder. Zuweilen kocht die oberste Bäuerin nach wie vor für die ganze Familie, aber sie lasse sich auch sehr gerne bewirten. Ihre Absenz sei eigentlich für niemanden ein Problem, «ausser natürlich für Mika», ergänzt sie. Tatsächlich scheint die Hündin fast zu platzen vor Freude, als ihr Frauchen nach der morgendlichen Sitzung endlich wieder auftaucht.

«Lebensqualität pur»

Beim anschliessenden Betriebsrundgang weicht die Hündin nicht von ihrer Seite. Etwas diskreter zeigen die beiden Katzen Tartine und Melman ihre Zuneigung. Mit den Haustieren im Schlepptau besuchen wir die Angusrinder. Familie Challandes hält seit 2018 Mutterkühe. «Sie kennen mich leider nicht so gut», sagt sie fast entschuldigend. Auf dem Betrieb sei sie nur noch selten im Aussendienst. Hingegen betreut sie nach wie vor die Buchhaltung und die Post.

Für Hobbys bleibt der Vielbeschäftigten zwischen zahllosen Sitzungen und Aktienstudium nurmehr wenig Zeit. Ab und zu schaut sie einen Film, gerne in Originalversion, macht ein Sudoku auf dem Telefon und trifft Freunde. Oder sie mache einfach gar nichts und geniesse dazu einen Kaffee mit Aussicht auf der Terrasse. «Das ist Lebensqualität pur.»