«Nein, geschlagen hat er mich nie. Die Gewalt war viel versteckter und hat mich fast kaputt gemacht. Mein Selbstvertrauen war an einem ganz kleinen Ort, ich hatte meine Persönlichkeit fast aufgegeben.» Daran erinnert sich Rösli F. noch sehr gut.

Sie war 15 Jahre verheiratet und es brauchte grosse Unterstützung einer engen Freundin und von Fachpersonen, bis sie den Trennungsschritt mit der Scheidung wagte. Heute steht die 52-jährige Mutter von zwei Kindern im Teenageralter wieder auf eigenen Beinen. Sie arbeitet in ihrem erlernten Beruf als Floristin und hat ein festes Netzwerk. Die Zeit als Bäuerin und Ehefrau ist sie immer noch am Verarbeiten.

Gewalt hat viele Gesichter

Gewalt hat viele Gesichter. Dies ist in zahlreichen Fachbüchern nachzulesen und oft ein Thema in den Medien. Meistens wird aber nur die körperliche Gewalt wahrgenommen. Diese ist sichtbar und kann von Mann zu Frau, aber auch von Frau zu Mann ausgeübt werden.

Rösli F. erlebte Gewalt auf eine gemeine, perfide Art. Es begann kurz nach der Hochzeit, als sie schwanger war. Ihr Mann öffnete, ohne zu fragen, ihre persönliche Post. Für ihn war das etwas ganz Normales, denn auch bei seinen Eltern wurde dies so gemacht. Für Rösli F. war es ungewohnt und ein grosser Eingriff in ihre persönliche Sphäre.

Post zurück behalten

Schlimm wurde es, als die junge Frau bemerkte, dass sie Briefe, deren Inhalt ihrem Mann nicht passten, gar nie bekam. Den Mut, sich dagegen zu wehren, fehlte ihr. Sie fürchtete sich vor dem Gespräch und den Demütigungen durch ihren Mann.

Vor ihrer Heirat hatte Rösli F. einen Freundeskreis gepflegt. Doch den zu erhalten, wurde zunehmend schwierig. Hatte sie ein Treffen mit ihren Schulkameradinnen geplant, bekam ihr Mann sicher eine Migräne und Rösli F. besorgte den Stall. War ein Vortrag im Landfrauenverein, konnte ihn Rösli F. nicht besuchen, denn ihr Mann war beim Nachbarn im Stalleinsatz und blieb länger zum Plaudern. Die Kontakte zu ihrer Familie wurden für Rösli F. ebenfalls stetig weniger. Immer kam etwas dazwischen, wenn Besuche geplant waren.

Mann bestimmte über alles

Nach der Geburt des zweiten Kindes war es für Rösli F. schon fast normal, dass ihr Mann über alles bestimmte. Sie merkte dabei nicht, wie eifersüchtig er war und wie er über ihre ganze Persönlichkeit den Besitz ergriff. Die Kindererziehung und die Arbeit auf dem Hof brauchten viel Zeit von Rösli F.

Ihr Mann war in der Feuerwehr und Dorfpolitik tätig und bekam öffentliche Anerkennung. Begleitete sie ihn an einen Anlass im Dorf, wurde sie öfter als «Dummchen» schlechtgeredet. Als die Kinder in der Schule waren, bot sich für Rösli F. die Gelegenheit, einen Wochentag im Blumenladen zu arbeiten. Bei einem heftigen Streit verbot ihr Mann, dass sie einer Tätigkeit ausser Haus nachging, und drohte erstmals mit Schlägen.

Dies war der Punkt, an dem Rösli F. ihre Kräfte sammelte und beim bäuerlichen Sorgentelefon anrief. Fast zur gleichen Zeit meldete sich eine gute Freundin bei ihr. Beim bäuerlichen Sorgentelefon und ihrer Freundin konnte sich Rösli F. öffnen. Sie beschreib die Situation in der Ehe, wie das Leben auf dem Hof war und persönliche Bedürfnisse längst keinen Platz mehr hatten.

Nicht nur Pflichten - auch Rechte

Von da an begann für sie ein langer Weg mit vielen Hindernissen und Hürden. Über die Plattform «Hilfe und Unterstützung» beim Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband SBLV fand Rösli F. eine geeignete Fachperson, die ihr zur Seite stand.

Sie lernte ihre Rechte kennen und erfuhr, dass es in einer Ehe nicht nur Pflichten gab. In einer Selbsthilfegruppe erkannte Rösli F., dass Gewalt unglaublich viele Gesichter hat. Körperliche Gewalt kann sehr schmerzhaft sein und im Moment sowie für die Zukunft viel kaputt machen. Psychische Gewalt kommt schleichend, und es braucht Zeit, um zu erfassen, was mit dem betroffenen Menschen passiert. Rösli F. hat es geschafft, ihre Situation «fünf vor zwölf» in die andere Richtung zu lenken. Geblieben sind viele Narben und Unverständnis von ihrem Exmann.

Hier findet man Hilfe

Der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband (SBLV) vermittelt auf seiner Website Hilfsangebote. Unter dem Navigationspunkt «Hilfe und Unterstützung» finden Bäuerinnen und Landfrauen für viele Lebenssituationen die geeigneten Fachstellen und -personen. Sei es für Beratungen in den Bereichen Familie und Betrieb bis hin zu Themen wie Überlastung oder Scheidung.

Das Bäuerliche Sorgentelefon ist ein Hilfsangebot für Bäuerinnen, Bauern und Angehörige sowie alle in der Landwirtschaft tätigen Menschen in schwierigen Situationen. Dreimal in der Woche ist die Nummer 041 820 02 15 betreut. Die Beratenden am Telefon sind oder waren selbst Bäuerinnen oder ­Bauern, kennen also die Verhältnisse der Landwirtschaft aus eigener Erfahrung. Der Kontakt bleibt anonym, ab­solute Diskretion ist gewährleistet. 

www.landfrauen.ch | www.baeuerliches-sorgentelefon.ch

Häusliche Gewalt in der Schweiz
Im Jahr 2021 registrierte die Polizei 19 341 Straftaten im häuslichen Bereich. «Tätlichkeiten (33 Prozent), Drohung (21 Prozent), Beschimpfung (19 Prozent) sowie einfache Körperverletzung (10 Prozent) machen insgesamt 83 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten aus», schreibt das Bundesamt für Statistik.

Häusliche Gewalt umfasst jede körperliche, sexuelle oder psychische Gewalttat, die sich innerhalb der Familie, des Haushalts oder der Partnerschaft abspielt. In der Schweiz erlebten im Jahr 2021 42 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer in der Partnerschaft Gewalt.

Psychische Gewalt umfasst dabei Gewalthandlungen wie Beleidigen, Demütigen, Erniedrigen, Drohen, Erzeugen von Schuldgefühlen, Anschreien oder Einschüchtern, Kontrolle oder Verbot von Familien- oder Aussenkontakten und Beschlagnahmen des Lohns. «Betroffene können unter sozialem Rückzug, einem verringerten Selbstwertgefühl sowie psychischen Beeinträchtigungen wie etwa Schlaf- und Essstörungen, Konzentrations- und Leistungsschwierigkeiten, Angstgefühlen und/oder Depressionen leiden», wie die Dachorganisation der Frauenhäuser (DAO) schreibt.

Ebenfalls strafbar ist  psychische Gewalt, auch wenn sie strafrechtlich schwerer ­fassbar ist als körperliche Gewalt.