«Diese Geschichte grenzt für mich an üble Nachrede», sagt Andreas Wälle. Der Leiter Tierhaltung am Gut Rheinau im Kanton Zürich ist aufgebracht. Er hat am 9. November 2021 die Ziegen des Betriebs, die auf der Alp Hintere Walop im bernischen Boltigen gesömmert wurden, in der Nähe anlocken können und geholt. Die Herde war nach dem Alpabzug im September 2021 alleine zurückgeblieben. Ein Hund hatte sie wenige hundert Meter vor dem Verladeort erschreckt, so dass sie ausbüxen konnte. Wälle hatte aber nicht im Sinn, die Ziegen da oben, auf 2000 m ü. M., zu vergessen, wie er versichert.

Erfolglose Versuche

Die Wochen vergingen, ohne dass der Betrieb, der als Demetergemeinschaft in Form einer GmbH geführt wird, die Ziegen vom Sömmerungsbetrieb zurückholen konnte. Mehrere Versuche scheiterten. Immer, wenn sich den Tieren jemand näherte, suchten sie das Weite. «Ziegen sind einfach keine Schafe, die man mit Hunden zusammentreiben kann. Mir war klar, dass es Zeit braucht, bis wir sie nehmen können», sagt Andreas Wälle.

Unbedingt informieren

Dass die Ziegen fast zwei Monate lang alleine auf der Alp zurückblieben, ärgerte die Boltiger. Denn im Bergdorf hielt bereits der Winter Einzug. Die Ziegen wurden zum Dorfgespräch. Immer wieder fragte man sich – den Blick nach oben gerichtet – sind sie noch dort? Der zuständige Gemeinderat, Adrian Riesen sagt: «Das geht einfach nicht», und meint damit, Tiere auf dem Berg ihrem Schicksal zu überlassen. «So etwas macht man hier bei uns nicht.»

Er erinnert sich, dass Mitte September der Polizei und der Wildhut gemeldet wurde, dass Tiere auf der Alp zurückgelassen wurden. Als zuständiger Gemeinderat erhielt er entsprechend Meldung. «Wenn so etwas passiert, muss umgehend Meldung gemacht werden», sagt Riesen. Die umliegenden Alpen, die Wildhut, aber auch die Gemeinde hätten vom Tierbesitzer informiert werden müssen, findet er. Denn: Wenn die Ziegen nicht hätten eingefangen werden können, wäre es irgendwann zu deren Abschuss gekommen. So fordert es die Behörde.

Als letzte Massnahme kommt die Wildhut auf den Platz

Wie oft kommt es zu solchen Vorfällen? «Eine schweizweite Übersicht ist uns nicht bekannt. Uns kommen solche Vorfälle nur selten zur Kenntnis, in den letzten fünf Jahren sind das weniger als fünf Fälle gewesen», sagt der Berner Kantonstierarzt Reto Wyss auf Anfrage.

Verfahren wird eröffnet
Was passiert nun aber, wenn Tiere nach Saisonende auf den Bergen bleiben und von ihren Besitzern nicht auf den Talbetrieb zurückgeholt werden? «Wenn wir Kenntnis davon erhalten, eröffnen wir ein Tierschutzverfahren und setzen dem Tierhalter oder den zuständigen Alpverantwortlichen eine Frist um die Tiere von der Alp abzuführen», erklärt Reto Wyss. Als letzte Massnahme müssten die Tiere schliesslich aus Tierschutzgründen durch die Wildhut erlegt werden. Die Kosten dafür tragen die Verantwortlichen.

«Ein Grundsatz der Tierschutzgesetzgebung ist, dass Tiere so zu halten sind, dass sie in ihrer Anpassungsfähigkeit nicht überfordert werden. Tiere, die bei Wintereinbruch noch auf der Alp sind, werden in ihrer Anpassungsfähigkeit überfordert und der Halter oder die Halterin muss dafür sorgen, dass die Tiere rechtzeitig herunter getrieben werden», begründet der Berner Kantonstierarzt. Gemäss einer weiteren Bestimmung sei es zudem verboten, Tiere, in der Absicht sich ihrer zu entledigen, auszusetzen oder zurückzulassen. «Bei Tieren, die nicht von der Alp getrieben werden, geht es aber in der Regel nicht darum, sich der Tiere zu entledigen, sondern sie können schlicht und einfach nicht mehr eingefangen werden. Somit greift diese Vorschrift oft zu kurz», ist Wyss sicher.

Halter ist verantwortlich
Die Verantwortung liegt also bei der Tierhalterin und den Alpverantwortlichen. Die Gemeinden können allenfalls lokale Landwirte organisieren, die beim Einfangen helfen. «Wir vom Amt für Veterinärwesen können falls nötig mit der Durchführung eines Tierschutzverfahrens Fristen setzen und damit den Druck erhöhen, damit effektiv Bemühungen unternommen werden», sagt Reto Wyss.

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Kommentar von Simone Barth: Welten prallen aufeinander

Dass sich Städter über das Zurücklassen einer Ziegenherde im Berner Oberland aufregen könnten, wäre für den Tierhalter noch verständlich. Dass sich aber ein bäuerliches Bergdorf ärgert, hingegen nicht. Die Landbevölkerung sollte doch wissen, dass Ziegen gerne ausbüxen. Warum schüttelt nun die ganze Bevölkerung dieses Bergdorfs wegen ein paar wilden Ziegen derart den Kopf?

Hier haben wir es ganz sicher nicht mit bösem Willen der Beteiligten zu tun, wie man es vielleicht glauben könnte. Hier wollen nicht einfach die Berner den Zürchern übel. Und es wollen auch keine Zürcher die Berner ärgern. Hier prallen ganz einfach Welten aufeinander. Es bringt nichts, diese Welten gegen aussen zu verbergen. In der Landwirtschaft herrscht nicht einfach Einigkeit. Da kollidieren Ansichten von Demeterproduzenten aus Zürich mit der Anschauung von Berns traditionell denkender Bergbevölkerung.

Ziegen auf einer Alp zurücklassen passt nicht zu den Gepflogenheiten und Traditionen des Berner Oberlands. Will man sich Ärger ersparen, richtet man sich am besten danach. Denn, wenn man den Bernern etwas nicht beibringen muss, dann ist es das meisterhafte Zügeln von der Alp.