Er strahlt wie ein kleiner Junge, der sein erstes ferngesteuertes Auto in den Händen hält. Doch Urs Plüss steuert nicht ein Miniauto, sondern er richtet seine schneeweisse Cinderella-Kutsche für den Einsatz. «Darauf habe ich lange gewartet», sagt der 40-Jährige und wischt mit dem Tuch ein letztes Mal über die Märchenkutsche. Urs Plüss hält in Oppershofen TG eines der grössten Brauereipferdegespanne der Schweiz. Seit einiger Zeit ist er mit seinen sechs Shire-Horses im Besitz der wohl einzigen Cinderella-Kutsche in der Schweiz. Der kräftige Lastwagenchauffeuer hat sich damit einen lang ersehnten Traum erfüllt. 

Die Kutsche mit den roten Ledersitzen ist nicht seine einzige. «Mittlerweile sind es sechs besondere Stücke in verschiedenen Stilrichtungen», sagt Plüss. Gezogen werden sie von seinen Shire-Horses – seinen Riesenbabys –, wie er sie nennt. 

Grosse Leidenschaft für Giganten

Grosse, schwere Pferde begeisterten Urs Plüss schon als kleiner Junge. Mehr durch Zufall entdeckte er die Rasse der Shire-Horses. Seine ersten Erfahrungen machte Plüss mit den grossen Riesen auf dem Eichhof in Luzern. Bei seinem zweimonatigen Aufenthalt in England lernte er bei der Arbeit mit den grossen Giganten die englische Umgangsform kennen.

«Damit war meine volle Leidenschaft komplett entfacht, und ich kaufte mir vor bald 20 Jahren meine ersten beiden Shires – natürlich in England», sagt der Lastwagenchauffeur. Erst diesen Frühling musste er eines seiner ersten Exemplare und den Ältesten im Bunde mit 25 Jahren in den Pferdehimmel entlassen. «Mit seiner eigenwilligen Art war Harry in all den Jahren bis zum Schluss ein treuer Begleiter», sagt Plüss. Der Verlust lässt ihn nicht unberührt. 

Kutschenfahrten von urchig bis märchenhaft

Urs Plüss macht sich mit weissem Hemd, bordeaux-rotem Jackett und schwarzem Zylinderhut bereit für seinen Einsatz. Sauber geputzt und geschniegelt warten derweilen die beiden Pferde Charly und Tommy am Schatten geduldig auf ihren Einsatz. Noch checkt Urs Plüss ein letztes Mal alles aufs Genaueste durch und stellt das Gefährt für seine beiden Tiere ein. 

Urs Plüss bringt seit 13 Jahren für die Brauerei Haldengut in Winterthur regelmässig Bier in Restaurants und tritt an Veranstaltungen auf. Zu seinem Wagenpark gehört eine zwölfplätzige Gesellschaftskutsche, eine weisse Droschke zum zwei- oder vierspännig Fahren sowie ein bordeaux-rot/schwarzer Lan­dauer, der bis sechsspännig zum Einsatz kommt. Für besonderes Aufsehen sorgt der Kutscher, wenn er seine sechs Riesen vor den doppelstöckigen Omnibus im Old English Style spannt.

Pferde eignen sich auch für geführte Ausritte

Doch Urs Plüss braucht seine Pferde nicht nur zum Wagenziehen. «Das temperamentvolle, grosse Wesen imponiert mir, und zum Galoppieren sind sie einfach ein Traum», sagt der Shire-Man. Er beschreibt die Rasse als Vollblut im Kaltblut. Obwohl die Tiere die Ruhe selbst aufweisen, zeigen sie enormes Leben und Temperament. Gerne bietet er mit seinen Riesen geführte Ausritte an.

Bis vor zwei Jahren waren Urs Plüss und seine Pferde bei seinen Eltern auf dem grosselterlichen Landwirtschaftsgut im zürcherischen Dättlikon untergebracht. «Für sechs Shire wurde es im umgebauten Kuhstall zu eng, und wir suchten lange nach etwas Grösserem», sagt Plüss. Doch seine Eltern Hedy und Peter bieten ihm nach wie vor bei Anlässen und wo immer es nötig ist eine helfende Hand. So sind sie auch beim Einspannen der Märchenkutsche mit von der Partie. 

Mit einem «Hüa hopp ihr beiden» gehts los

Mutter Hedy holt in aller Ruhe Tommy und führt ihn vor die Kutsche. «Für uns ist das eine schöne Abwechslung zum Alltag», sagt Hedy Plüss. Ihr Sohn rückt den Po des 18-Jährigen parallel zur Zugstange. Geduldig lässt sich Tommy positionieren und bleibt stehen. «Unser Gemütsbrocken lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen», sagt Plüss. Schon steht Vater Peter mit dem 18-jährigen Wallach bereit. Im Nu ist das Gespann komplett. Plüss schwingt sich auf den Kutschbock, nimmt die Zügel in die Hände und strahlt übers ganze Gesicht. «Hüa hopp ihr beiden» – und schon setzen sich die Riesen mit ihrem festlich weissen Ohrengarn und der Feder auf dem Kopf in Bewegung.

Shire Horses gehören mit einer Widerristhöhe von 1,78 bis zu 2,15 Meter nund gut 1000 Kilogramm Körpergewicht zu den grössten Pferden der Welt. Nebst Weidegang frisst bei Urs Plüss ein Shire-Horse täglich rund 20 Kilogramm Heu und vier  bis fünf Kilogramm Mischfutter.  Shire-Horses werden unter den Kaltblütern auch «Gentle Giants» genannt. Ursprünglich stammen sie aus Grossbritannien. Die anfänglich als Ritterpferde gezüchtete Rasse, fand ihren eigentlichen Verwendungszweck später in der Landwirtschaft und auch als Kutschpferd vor den Wagen der englischen Brauereien. Sie sind in vielen Emblemen und Logos diverser englischer Pubs und Brauereien zu finden. Doch vor einer weissen, märchenhaften Cinderella-Kutsche wurden sie bestimmt noch nie gesehen.

Daniela Ebinger