Ehe sich Julia Hofstetter versah, war sie Ziegenhirtin. Erst war da dieser vage Traum von ein paar Geissen, dann kam eine Hektare Wiese der Wasserversorgung Zürich ins Spiel. Rund zwei Monate hatte sie Zeit, um den dazugehörigen Stall bereitzustellen. Was bis anhin eine Schafwiese war, verwandelte sich in eine bunte Stadtgeissenwiese. «Es war ein magischer Moment, als die Ziegen im Sommer 2013 morgens um 4 Uhr aus dem Anhänger stiegen und über die Wiese zum Stall liefen. Grad so, als hätten sie nie woanders gelebt», erinnert sich die Biologin an den Einzug ihrer damals fünf Stiefelgeissen in Zürich Seebach. Dabei waren sie ein paar Stunden zuvor noch in Sent im Unterengadin zu Hause.

Ziegen verbinden

Diese Magie der ersten Stunde ist geblieben. Wer das frei zugängliche Gelände unweit des Bahnhofs Seebach betritt, taucht in eine kreative Welt des Seins, Dürfens und Staunens ein. Zwischen Bahnlinie, Strassen und Hochhäusern schaffen es die unterdessen sieben Geissen mit ihrem bunten Zuhause junge und alte Menschen in ihren Bann zu ziehen. «Ziegen haben etwas Verbindendes», sinniert Julia Hofstetter. «Es gibt sie an vielen Orten auf dieser Welt und sobald Menschen Ziegen sehen, erinnern sie sich.» Dabei denkt sie vor allem an diesen Jungen aus Somalia, der die Leitziege mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit von der Schule zur Wiese geführt hat. Für viele andere Kinder stellt dies eine Mutprobe dar. Die grossen Geissen mit ihren langen Hörnern machen Eindruck. 

Die zweifache Mutter hat schnell gemerkt, dass die Ziegenwiese für Stadtkinder ganz besondere Abenteuer bereit hält. Bereits zig Klassen aus den Quartierschulhäusern hat sie abgeholt und auf die Wiese mitgenommen. Dort haben die jungen Zweibeiner ein paar Stunden mit Geissenkunde, Basteln, Dreckeln, Schaukeln und Wettrennen verbracht. Die Vierbeiner stört das wenig. Im Gegenteil: Das Treiben auf der Wiese kommt ihrer Neugier entgegen und ansonsten gibt es in ihrem eingezäunten Teil und im Stall genug Platz, um sich etwas Ruhe zu gönnen. 

Eine Wiese für viele

Julia Hofstetter sprüht vor Ideen und verzaubert mit ihren Zeichnungen und Texten – die nicht nur das Gelände und die Stallfassade bereichern, sondern auch in mehreren selbst verfassten Büchern Einzug finden – die (Quartier-)Welt. Der Vorstand des jungen Vereins Stadtgeiss versucht, diese Kreativität zu unterstützen. Während Jahren zahlte Julia Hofstetter sämtliche Aktionen aus der eigenen Tasche. Dank dem Verein ist es ihr heute möglich, Fundraising zu betreiben. So erhält sie beispielsweise einen Beitrag von der Stadt Zürich. Unterstützt wird sie auch von verschiedenen Helferinnen und Helfern. «Meine Idee war von Anfang an, dass auf der Wiese mehrere Leute mitmachen können. In welcher Form auch immer», erklärt sie. Während die einen in Hochbeeten Gemüse anpflanzen, kümmern sich die anderen um den Stall, die Umgebung oder anderes, wobei die Hauptverantwortung bei der Ziegenhirtin liegt. 

«Für mich persönlich ist die Stadtgeissenwiese eine Geschichteninsel», erklärt die 47-jährige Zürcherin. Zu diesen Geschichten gehören zum Beispiel der «Alpaufzug» zu einer Genossenschaftssiedlung, die mithilfe der Ziegen ihren Neophyten zu Leibe rücken möchten, der Ziegen-Besuch in der Sendung «Aeschbacher», zwei Wiesenfeste pro Jahr, verschiedene Aktionstage, ihre Bücher, ihre Facebook-Einträge «Aus dem Leben einer Ziegenhirtin» und seit neuestem ein Ziegen-Puppentheater. 

Der Person Julia Hofstetter mit ein paar wenigen Zeilen gerecht zu werden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wer ihr Buch «Stadtgeiss – Vom Leben mit Ziegen in der Stadt» in den Händen hält, merkt schnell, dass sie nebst einer grenzenlosen Fantasie auch über einen grossen Wissensschatz verfügt. So erfährt man im Buch nebst vielen Ziegen-Infos auch Spannendes über Pflanzen. Mit dazu gehören Bastel- und Werkanleitungen, spezielle Rezepte und Gartentipps. Plus natürlich viele tolle Fotos und Julia Hofstetters unverkennbare Ziegen-Illustrationen und -Sprüche wie: «Meckern, denn fröhliche Empörung und gründliches Kauen sind die Essenz allen Wandels.» 

Eine neue Geschichte

Eine neue interessante Geschichte schreiben auch die vier Hühner, die des Legens müde waren und anfangs Sommer in Zürich Seebach ein neues zu Hause gefunden haben. Seit sie mit den Ziegen zusammenleben, ist deren Parasitenbefall eindeutig zurückgegangen und die Hühner haben im Gegenzug 
vor den Stadtfüchsen nichts zu befürchten. Einzig der Hahn musste dran glauben. Aber aus eigenem Verschulden. Sein angriffiger Charakter passte so ganz und gar nicht auf die friedliche Wiese.

Franziska Schawalder

Video: Julia Hofstetter und ihre Geissen