Wer wurde nicht schon enttäuscht? Von jemandem enttäuscht zu werden ist bitter und tut meist sehr weh. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, gar betrogen wurde, kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Das geht nicht – und muss auch nicht sein!
Wenn mein Partner oder meine Partnerin fremdgegangen ist, wenn ich von einem Kind oder von der besten Freundin hintergangen wurde, ist das etwas, was mich verletzen muss. Sich in diesem Moment zu sagen, «da muss ich jetzt verzeihen können», und das von mir auch zu erwarten, wäre falsch. Bei einer so groben Verletzung wie es das Fremdgehen des Partners oder der Partnerin, einfach so zu tun, wie wenn nichts gewesen wäre, bringt uns nicht weiter. Dasselbe gilt, wenn mich sehr nahestehende Personen kränken.
Natürlich ist es bei einer Bagatelle richtig, «fünf gerade sein zu lassen». Das gilt aber für Kleinigkeiten und nicht für sehr tiefe Verletzungen.
Nicht sich selber bestrafen
«Das werde ich dir nie verzeihen!», ist einer der bittersten Sätze, die man aussprechen kann. Wenn dieser Satz in «der Hitze des Gefechts» ausgestossen wird, ist das verständlich. Er sollte aber keine Gültigkeit bekommen. Denn wer nicht verzeihen kann, schadet in erster Linie sich selbst. Natürlich denkt man, die andere Person mit diesem Gebaren zu strafen. Das mag sein – aber am meisten leiden wir selber unter diesem Verhalten. Die andere betroffene Person weiss und spürt, dass wir ihr nicht vergeben.
Bewusst oder unbewusst möchten wir uns für die erlittenen Schmerzen, die Demütigung oder allenfalls die Scham rächen. Diese Sichtweise ist leicht nachzuvollziehen und auch verständlich. Denn Kränkungen schmerzen wirklich. So halten wir die Gedanken an das, was uns angetan wurde, wach und somit auch den Schmerz. Es ist fast so, als würden wir das Messer, das in der Wunde steckt, immer wieder selber umdrehen und damit stochern.
Verzeihen heisst nicht gutheissen
Es lohnt sich, nach einer gewissen Zeit das Verzeihen ganz bewusst anzugehen. Das bin ich mir schuldig, denn ich will nicht in einer Opferrolle bleiben. Ich will und muss selber Verantwortung für mein Wohlergehen übernehmen. Es kann doch nicht sein, dass Menschen, die mich verletzt haben, weiterhin dafür sorgen, dass es mir nicht gut geht! Das bewusste Verzeihen-Wollen ist ein wichtiger Weg dazu, dass es mir wieder besser geht.
Oft scheitert das Verzeihen-Können daran, dass ich das Gefühl habe, der anderen Person damit einen «Freibrief» für falsches Benehmen zu geben. So ist das aber nicht. Wenn ich verzeihe, muss ich deswegen eine Tat nicht gutheissen! Nehmen wir als Beispiel das Fremdgehen der Partnerin oder des Partners: Wenn ich ihr oder ihm verzeihe, heisst das selbstverständlich nicht, dass ich das Fremdgehen akzeptiere oder gutheisse. So ist das nicht gemeint.
Aber gehen wir einmal davon aus, dass ein Partner fremdgegangen ist. Im Idealfall tut es ihm oder ihr von Herzen leid und sie oder er schämt sich dafür. Es war ein einmaliger Ausrutscher, es gibt keine Bindung mehr zwischen der Person, mit der er oder sie betrogen hat. Ein offenes Gespräch klärte die Situation, ich kenne nun auch die Beweggründe, weshalb der Partner fremdgegangen ist.
Jetzt steht eine wichtige Entscheidung an: Will ich mit meinem Partner zusammenbleiben? Wenn ich diese Frage bejahe, gibt es nur einen Weg – den des Verzeihens. Ich entscheide mich durch das Vergeben dazu, nicht länger zuzulassen, dass die Tat mein und unser Leben dauerhaft negativ beeinflusst. Ich muss meinem Partner eine zweite Chance geben. Wenn ich auch nach langer Zeit immer noch in dieser Wunde stochern würde, bekämen beide Partner keine Ruhe, und die Beziehung würde mit Sicherheit massiv belastet bleiben.
Verzeihen verlangt Grosszügigkeit
Verzeihen kostet Kraft, verlangt Grosszügigkeit und setzt voraus, dass man loslassen kann. Allein diese Aussage zeigt klar auf, dass verzeihen schwierig ist. Viel Schwieriges kann man aber lernen, so auch das Verzeihen – oder mindestens teilweise. Von einer Minute auf die andere zu vergeben ist in der Regel problematisch. Sinnvoller ist es, nochmals genau hinzuschauen und sich zu überlegen, welche Ziele ich erreichen möchte. Heissen die Ziele Frieden, gute Beziehung, gemeinsames Weitergehen, muss ich den Weg des Vergebens früher oder später beschreiten.
Ein sinnvoller Start ist beispielsweise, dass ich mich in einer ruhigen Stunde hinsetze und alle Punkte aufschreibe, die mich verletzt haben. Anschliessend ist es sinnvoll, einen offenen, ehrlichen Brief zu schreiben. Alles darf so niedergeschrieben werden, wie ich es empfinde. Ohne Diplomatie, mit ganzer Offenheit. Das bringt viel, so kann ich alles nochmals ausleuchten. Am Schluss kann ich diesen Brief zwei- oder dreimal durchlesen –
und ihn dann verbrennen oder in unzählige Fetzen zerreissen.
Verzeihen können ist ein Akt der Stärke
Ein derartiger Akt tut gut und befreit. So kann ich bewusst Abschied nehmen und vielleicht sagen: «So, jetzt ist die Geschichte fertig, ich verzeihe dir und möchte nochmals beginnen. Ich mache den ersten Schritt.» Verzeihen können ist ein Akt der Stärke und nicht der Schwäche.
Wer nicht so gerne schreibt, kann eine andere Möglichkeit wählen. Ich kann ein Foto der Person, der ich verzeihen möchte, vor mir platzieren. Anschliessend kann ich alles laut sagen, was mich verletzt hat und was schmerzt. Am Schluss kann ich ebenfalls laut und deutlich sagen, dass ich verzeihen möchte, weil ich in Frieden zusammen weitergehen will. Sicher ist: Verzeihen macht frei und lässt positiv in die Zukunft blicken.
Agnes Schneider Wermelinger