Tancredi Rochira überlässt den Stab zum Abstossen am sandigen Ufer der Sitter seiner Frau Silvia. Als das Zugseil und das Steuerseil richtig eingehängt sind, gondelt die Holzfähre, die bis zu 13 Personen fasst, lautlos über den Fluss. Das ungleiche Paar erinnert an die Gondolieri in Venedig. «Singen können wir nicht», sagt Tancredi Rochira, der breitbeinig neben seiner grossgewachsenen Frau steht. Lieber schwatzen sie mit den Ausflüglern oder beobachten auch mal einen Eisvogel oder eine Bachstelze.

Leidenschaft fürs Handwerk


Bald schon ist die Saison zu Ende, erzählt das Paar später auf der sonnigen Terrasse vor dem Restaurant, das nur über die Sommermonate geöffnet ist. Es war ihre erste Saison in der Gertau. Das Paar hat den Landwirtschafts- und Gastronomiebetrieb vergangenen Herbst gekauft. Zufrieden blicken sie auf diese erste Saison zurück.

Als Kind einer italienischen Familie wuchs Tancredi Rochira in der Ostschweiz auf. Nach dem Maturabschluss ging er für vier Jahre zurück nach Italien ins Militär, mit dem Ziel, Pilot zu werden. Es kam anders. Rochira war farbenblind und musste den fliegerischen Traum begraben. Er machte Abschlüsse im Bereich ABC-Waffen, kam zurück in die Schweiz und arbeitete im Aussendienst eines IT-Unternehmens. Je länger je mehr entdeckte er seine Leidenschaft fürs Handwerkliche. Die damalige Zeit, das seriöse Umfeld und seine guten Facharbeiter halfen ihm, seinen Traum, schlüsselfertige Wohnhäuser zu bauen, in die Realität umzusetzen. Zwei Systeme im Holzbau liess er patentieren und baute in den vergangenen 15 Jahren 50 Häuser.

Pensum wurde zur Belastung

Die Ehe mit seiner Frau Silvia, aber besonders die Geburt seiner drei Kinder (heute sechs, sieben und zehn Jahre alt) liessen ihn immer öfters an seinem grossen Arbeitspensum und seiner ständigen Präsenz an der Front zweifeln. Tancredi Rochira kannte weder Freizeit noch Ferien. Je länger je mehr verlagerte sich sein Interesse in eine ganz andere Richtung, hin zur Natur.


Tancredi Rochira erklärt, dass sein Interesse am Ökosystem, dem Verband aus miteinander wechselwirkenden Einheiten, gross ist. Die Klimaerwärmung beeinflusst heute die allgemein gültigen Umweltbedingungen stark. Damit besteht die Möglichkeit, auch in den gemässigten Zonen exotische Pflanzen anzusiedeln. Und diese Möglichkeit, ist Rochira überzeugt, muss man nutzen.


Angefangen hat er mit Zitrusgewächsen an seinem früheren Wohnort auf 800 Meter Höhe im Appenzellerland. Granatäpfel, Pfirsiche, Zitronen, Mandarinen, Kumquats und viele andere Fruchtbäumchen hat er über die Jahre gehegt und gepflegt. Seit er bei einem Projekt der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft involviert ist, fühlt er sich bestärkt, die idealen Bedingungen auf seinem Hof zu nutzen und mit einer grossen Pflanzenvielfalt zu arbeiten.

Sicherer Absatz für Kräuter


Mit einer ausgeklügelten Biodiversität, bei der sich Pflanzen gegenseitig vor Schädlingen schützen, verspricht sich Tancredi Rochira, herbizidfreie Anbauverfahren. Diese Erfahrungen sind für seinen Hof und für die Forschungspartner von Hochschulen interessant. «Ich will nicht grossflächig produzieren. Viel lieber will ich mit einer grosser Pflanzenvielfalt erfolgreich sein», sagt er.


Man merkt, dass ihm das Stillsitzen nicht liegt. Viel lieber legt er Hand an, an den Sachen, die für ihn Zukunft bedeuten. Ein besonderes Augenmerk setzt Tancredi Rochira auf die Produktion von Kräutern. Seine Eltern haben sich mit der Firma Farmesan AG und den Produkten, welche nach der Lehre von Hildegard von Bingen hergestellt werden, einen marktführenden Namen geschaffen. Deshalb ist für den Absatz der Kräuter gesorgt. Auf der Gertau werden seit Jahrzehnten auch Spargeln angebaut. Dieses Jahr wurden eineinhalb Tonnen ge
erntet, andere Jahre war es auch schon die doppelte Menge.

Neben den Pflanzen verfolgt Rochira auch bei der Tierhaltung eine erfolgversprechendeRichtung. Mit einer vom Vorgänger übernommenen Schafherde von 18 Muttertieren, den Jungtieren und einer Hasenzucht im Freilandgehege von heute 20 bis 30 Muttertieren und ungefähr fünfmal so vielen Jungtieren sieht Rochira auch hier ein grosses Potenzial. Aber auch Masthennen tummeln sich auf der Gertau, wie auch eine Schar Gänse, die Gäste mit ihrem lauten Geschnatter willkommen heissen.

Von der Pike auf

Dass sich Tancredi Rochira nun seit eineinhalb Jahren in der Ausbildung zum Landwirt EFZ auf dem eigenen, 16 Hektaren grossen Betrieb befindet, erstaunt nicht. «Diesen Beruf muss ich von der Pike auf lernen», stellt der 40-Jährige nüchtern fest. In der Gertau sollen in wenigen Jahren zwischen 80 und 120 verschiedene Produkte produziert werden, wenn man die Kräuter, das Obst und das Fleisch zusammenzählt.


Zudem ist der Landwirtschaftsbetrieb stark mit dem Restaurant verknüpft, wo dann auch die eigenen Produkte im Angebot stehen werden. Vom Vorgänger übernommen hat Rochira auch die Pensionspferde, wobei auch hier noch Ausbaumöglichkeiten bestehen.

Fährmann und Tellerwäscher

Diesen Winter will Silvia Rochira die Wirteprüfung absolvieren, damit auch hier die professionelle Grundlage vorhanden ist. Und wo sieht sich der umtriebige, zukünftige Bauer in zehn Jahren? «Die Angestellten sind das wichtigste Gut in einem Unternehmen. Wenn sie das Vertrauen und die Achtung des Vorgesetzten spüren, sind sie bereit, grosse Verantwortung zu übernehmen.»

Er ist überzeugt, dass sich seine Kulturen wie auch seine Ideen im Tierbereich gut umsetzen lassen. Und dass er später regelmässig den Fährdienst übernehmen könne, um mit den Besuchern zu plaudern. Obschon er im Grunde genommen ein introvertierter Mensch sei und im Restaurant am liebsten als Tellerwäscher eingesetzt werde.

Ruth Bossert