Kartoffeln mögen Temperaturen um die 20 Grad. Die bis zu 36 Grad der letzten Wochen bedeuteten einen zu grossen Stress für die Knollen. Erstens haben viele Kartoffeln Mühe, das nötige Kaliber zu erreichen, und zweitens steigt nach dem Regen das Risiko für Zweitaustrieb, in der Fachsprache «Kindelbildung» genannt. Dabei bilden die Knollen vorzeitig die nächste Generation, und sie beginnen wegen dieses Zweitaustriebs zu schrumpfen.
Viel Zweitaustrieb im Seeland
In seinem Einzugsgebiet seien viele Kartoffelfelder betroffen, sagt der Geschäftsführer der Landi Gampelen BE, Kurt Benninger. «Ein Drittel bis die Hälfte der Kartoffelbauern melden, dass sie Zweitaustriebe beobachten», erzählt Benninger.
Er hofft, dass die Verarbeiter ab nächster Woche zuerst die Kartoffeln mit Zweitaustrieb verarbeiten. Dies obwohl noch nicht klar sei, ob diese die Anforderungen der Verarbeiter auch erfüllten. Wenn auf den Kartoffelfeldern die Gefahr von Zweiaustrieben besteht, setzen die Kartoffelbauern Wachstumsregulatoren wie Fazor ein.
Allerdings ist der Einsatzzeitpunkt auf den meisten Feldern vorbei, denn Fazor sollte laut technischem Merkblatt spätestens drei Wochen vor der Krautvernichtung eingesetzt werden.
Matthias Schwab ist ein Lohnunternehmer und Kartoffelproduzent aus Gals BE. Seine fünf Kartoffelvollernter sind seit Anfang August bereits zu zwei Drittel ausgelastet. «Zurzeit graben wir hauptsächlich auf Feldern, wo sich Zweitaustriebe gebildet haben», sagt er.
Um noch zu retten, was zu retten ist, lassen viele Kartoffelproduzenten bereits jetzt graben. Allerdings sind zurzeit die allermeisten Kartoffeln noch nicht vollständig schalenfest. «Mit den Vollerntern der heutigen Generation ist das Graben von noch nicht vollständig schalenfesten Kartoffeln kein Problem mehr», weiss der erfahrene Lohnunternehmer.
Nicht bei grösster Hitze graben
Allerdings gibt es auch Einschränkungen. So ernten Schwabs Maschinen nur, wenn es weniger als 30 Grad Celsius warm ist. Deshalb sind die Graber am frühen Morgen unterwegs.
Matthias Schwabs Kunden liefern die jetzt gegrabenen Kartoffeln in die Verarbeitungsindustrie. Wenn das Kaliber bei den Kartoffeln stimme, lohne sich das frühzeitige Ernten trotz jetzt noch tieferen Preisen und trotz etwas geringerer Ernte, sagt er. So könne im besten Fall die Kartoffelernte gerettet werden, und zugleich könne man sich weitere Fungizidbehandlungen der Kartoffeln ersparen.
Ruedi Fischer, Präsident der Vereinigung Schweizerischer Kartoffelproduzenten, sagt, dass vor allem die Sorte Agria ein Problem mit Zweitaustrieb hat. «Befallene Kartoffeln werden den Backtest der Verarbeitungsindustrie nicht immer bestehen», weiss er aus Erfahrung. Ausserdem, so viel hat er bisher gesehen, dürften viele Posten das notwendige Kaliber nicht erreichen.
Fischer weist aber auch darauf hin, dass am 17. und 18. August Ertragserhebungen über die Kartoffelernte gemacht werden. «Erst nachher weiss man Genaueres über die Erträge und die Qualität der Kartoffelernte 2015», betont er.
In einem Punkt ist sich Fischer aber sicher: «Ganz anders als letztes Jahr werden wir heuer eher einen Kartoffelmangel als einen Überfluss erleben.» Die geringe Ertragsmenge werde positive Auswirkungen auf das Preisband der Kartoffeln haben, dessen ist sich Fischer sicher.
Hans Rüssli